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Joe Biden – oder warum totgeglaubte manchmal länger leben

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Analyse

Joe Biden – oder warum Totgeglaubte manchmal länger leben

Lausige Umfragewerte, manipulierte Wahlkreise: Für die US-Demokraten sieht es derzeit für die Zwischenwahlen zappenduster aus.
21.11.2021, 10:13
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In der Chefetage der Grand Old Party (GOP) ist man dieser Tage gerne zu einem Spässchen aufgelegt. «Wie wäre es, wenn Donald Trump der nächste Speaker würde», witzelte Mark Meadows, der ehemalige Stabschef des Ex-Präsidenten, in einem Blog von Steve Bannon.

Theoretisch wäre des möglich. Der Posten des Speakers – des dritthöchsten im Lande – setzt nicht voraus, dass man auch gewählter Abgeordneter ist. Und müsste Nancy Pelosi den Holzhammer, das Symbol des Speakers, tatsächlich an Trump übergeben, dann hätte dieser wohl multiple Rache-Orgasmen.

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Nancy Pelosi mit dem Objekt der Begierde: dem Hammer des Speakers.Bild: keystone

In der Praxis wird jedoch dieser Holzhammer – falls überhaupt – wohl an Kevin McCarthy übergehen, dem aktuellen Anführer der republikanischen Minderheit im Abgeordnetenhaus. Dieser ist sich bereits mehr als sicher, dass sein lange gehegter Traum nach den Zwischenwahlen in Erfüllung gehen wird. «Wenn du ein Demokrat bist und Präsident Biden in deinem Wahlkreis mit 16 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hat, musst du im kommenden Jahr trotzdem um deinen Sitz zittern», prahlte er jüngst.

Die Euphorie der Republikaner stützt sich auf die jüngsten Umfragewerte. «Wie schlimm ist es für die Demokraten?», fragt die «New York Times» besorgt. Sehr schlimm, sagen die Zahlen. Eine Umfrage von ABC News zeigt, dass derzeit landesweit 51 Prozent der registrierten Wähler die GOP unterstützen, und bloss 41 Prozent die Demokraten. Normalerweise ist dieses Verhältnis umgekehrt.

Auch die Beliebtheitswerte von Präsident Biden befinden sich im Sturzflug. Betrug die Zustimmung zu seiner Politik einst im Mai noch 51 Prozent, sind es heute bloss noch 41 Prozent. «Die Demokraten sollten nicht in Panik, sie sollten in Schockstarre verfallen», warnt der Politexperte Thomas Edsall ebenfalls in der «New York Times» und lässt den Politologen Robert Shapiro von der Columbia University die Ursachen für dieses Debakel aufzählen:

«Für Biden und die Demokraten gibt es fast nur schlechte Nachrichten: Die Pandemie geht weiter; das Wirtschaftswachstum hat die hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllen können. Dazu kommt das Chaos beim Abzug aus Afghanistan, die Situation an der Grenze zu Mexiko und eine hohe Kriminalitätsrate. Schliesslich gibt es noch den jüngsten Inflationsschub, vor allem bei den Benzinpreisen, und die Critical Race Theory lässt die Demokraten schwach und extrem aussehen. Die schlechten Nachrichten sind überwältigend.»

Die Politologin Micah English von der Yale University verweist derweil darauf, dass Kommunikation nicht gerade eine Stärke der Demokraten sei:

«Die Republikaner verbreiten derzeit die Botschaft: ‹Die Demokraten und Biden kümmern sich einzig darum, den Kindern die Critical Race Theory beizubringen, anstatt sich auf die Wirtschaft zu konzentrieren!› Die Demokraten haben dem nichts entgegenzusetzen, und wenn ihnen das nicht bald gelingt, werden sie in den Zwischenwahlen und danach schwere Verluste erleiden.»

Als ob dies alles nicht genug wäre, kommen weitere erschwerende Faktoren für die Demokraten hinzu. Traditionsgemäss verliert bei den Zwischenwahlen die Partei, die an der Macht ist, Sitze. Zudem gibt die jüngste Volkszählung – sie findet alle zehn Jahre statt – den Republikanern die Möglichkeit zum sogenannten Gerrymandering. Will heissen, einer willkürlichen Einteilung der Wahlbezirke zu ihren Gunsten.

Und die Republikaner machen reichlich vom Gerrymandering Gebrauch. Im Bundesstaat North Carolina beispielsweise ist es ihnen gelungen, die Wahlkreise so zu manipulieren, dass sie 10 von 14 Sitzen im Abgeordnetenhaus auf sicher haben. Obwohl der Stimmenanteil bloss um wenige Prozentpunkte auseinanderklafft.

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Will um jeden Preis auf den Speaker-Sessel: Kevin McCarthy.Bild: keystone

Ist damit eine «rote Welle» in einem Jahr eine sichere Sache? Heisst es bereits: Game, Satz und Match für die GOP? Nun, nicht ganz.

Für die Demokraten spricht, dass wir das Jahr 2021 und nicht das Jahr 2022 schreiben. Im kommenden Jahr kann und wird sich noch viel ereignen. Der konservativ beherrschte Supreme Court könnte beispielsweise das Abtreibungsurteil im Fall «Roe v. Wade» aufheben und damit die Frauen scharenweise in die Arme der Demokraten treiben.

Oder die unsinnige Covid-Politik konservativer Gouverneure könnte die Fallzahlen in den «roten» Bundesstaaten einmal mehr explodieren lassen. Oder Donald Trump könnte in einem seiner immer noch hängigen Verfahren angeklagt werden. Oder der Ausschuss zur Aufklärung des Sturms auf das Kapitol bringt noch mehr vernichtende Tatsachen ans Tageslicht, oder…

Die grösste Gefahr droht der GOP von dem sogenannten O’Donnell-Effekt. Christine O’Donnell war eine konservative Politikerin im Bundesstaat Delaware. Im Zuge der Tea Party wurde sie bekannt. Sie hätte einen bereits sicher geglaubten Senatssitz erobern können, vermasselte es jedoch mit extremen Positionen. So verurteilte sie beispielsweise Homosexualität und Masturbation und machte sich lächerlich mit der Aussage, sie sei keine Hexe.

Kandidaten für den O’Donnell-Effekt gibt es bei den Republikanern zuhauf. So hat sich Trump demonstrativ hinter den Abgeordneten Paul Gosar gestellt. Dieser ist soeben vom Parlament gerügt und seiner Kommissionsämter enthoben worden, weil er in einem Comic-Tweet seine demokratische Kollegin Alexandria Ocasio-Cortez symbolisch ermordete. Für Trump ist Gosar jedoch ein «höchst respektierter Politiker, der meine vollumfängliche Unterstützung geniesst».

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Die Freak-Show der GOP: Lauren Boebert, Matt Gaetz und Marjorie Taylor Green (von links nach rechts). Bild: keystone

In gleicher Weise stellen sich Trump und die GOP auch schützend vor Marjorie Taylor Green, die etwas seltsame Abgeordnete aus Georgia. Oder vor Matt Gaetz aus Florida. Dieser muss täglich mit einer Anklage wegen Sex mit einer Minderjährigen und Frauenhandel rechnen.

Die Republikaner können auch nicht darauf zählen, den Triumph bei den Gouverneurswahlen in Virginia zu wiederholen. Dieser war vor allem möglich, weil mit Glenn Youngkin ein für GOP-Verhältnisse vernünftiger Kandidat zu Verfügung stand. Ihm ist es gelungen, gleichzeitig die Trump-Basis für sich zu gewinnen und sich Trump vom Leibe zu halten. Das wird bei den Midterms nicht möglich sein. Dort werden sich die extremen Trump-Fans durchsetzen und den O’Donnell-Effekt bei den gemässigten Wählerinnen und Wählern triggern.

«Die Nachrichten über meinen Tod sind weit übertrieben», spottete einst Mark Twain, als eine voreilige Meldung über sein Ableben die Runde machte. Vielleicht können Biden und die Demokraten dieses Zitat in einem Jahr rezyklieren. Nicht alles läuft gegen sie. Hat die Wirtschaft einmal den Corona-Schock überwunden, dann dürfte sich auch die Inflation wieder in normalen Bandbreiten bewegen. Damit wäre der schlimmste Stein des Anstosses aus dem Weg geräumt.

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Werden nun auch sie einlenken? Die Senatoren Joe Manchin und Kyrsten Sinema.Bild: keystone

Vor allem können der Präsident und seine Partei endlich handfeste Erfolge vorweisen. Der «harte» Teil des Infrastrukturprogramms ist bereits unter Dach und Fach. Landauf können die Demokraten stolz auf Brücken, Strassen, Häfen und neue Glasfaserkabel verweisen, welche nun gebaut werden und welche die Menschen ihnen zu verdanken haben.

Auch für den «weichen» Teil sieht es nicht schlecht aus. Das Congressional Budget Office, das finanzielle Gewissen des Parlaments, hat soeben grünes Licht gegeben und erklärt, das Staatsdefizit würde sich nur unwesentlich erhöhen, sollte dieses Gesetz angenommen werden. Damit ist das wichtigste Argument der moderaten Demokraten entkräftet worden. Das Abgeordnetenhaus hat am Freitag den «weichen» Teil verabschiedet. Gleichzeitig haben sich die Chancen erhöht, dass die beiden Bremser im Senat, Joe Manchin und Kyrsten Sinema, ihre Zustimmung erteilen werden.

Im Frühling 2020 wollte niemand mehr auch nur einen Cent auf Joe Biden setzen. In den ersten Vorwahlen in Iowa und New Hampshire ging er sang- und klanglos unter. Zu alt, zu schwach schien er damals. Dann meldete sich der Totgesagte jedoch zurück, schlug zunächst seine Rivalen in der eigenen Partei aus dem Feld und vertrieb danach Trump aus dem Weissen Haus. Könnte ja sein, dass sich auch Kevin McCarthy zu früh freut.

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25 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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mrmikech
21.11.2021 13:13registriert Juni 2016
Und wieder zeigt USA, wie kindisch es ist. Nach weniger als einem Jahr wollen die Leute wieder die andere Partei wählen. Und dann wieder zurück, und, und. Deshalb ändert sich nie etwas, die kleineren Stimmen werden weiter marginalisiert, die extremen Stimmen verstärkt. Und genau das wollen die Mächtigen, denn es geht die nur ums Geld. Dumm, dumm die Amis.
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International anerkannter Experte für ALLES
21.11.2021 12:40registriert Juli 2021
Warum unternimmt keine Partei etwas gegen Gerrymandering? Warum dürfen Personen, die einmal im Gefängnis waren (egal aus welchen Gründen!) nie mehr wählen in gewissen Bundesstaaten? Warum kann man die Registrierung für Wahlen unendlich komplex machen, ohne dass sich dagegen jemand wehrt?

Meine Vermutung: Weil irgendwie beide grossen Parteien davon profitieren. Nicht gegeneinander, aber gegen kleine Parteien wie die Grünen, Liberalen etc.

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Colibri
21.11.2021 12:48registriert Februar 2017
Gerrymandering - wahrlich das Land der unsinnigsten, äh... unbegrenzten Möglichkeiten 🧐
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