Was sich in den letzten Tagen in Afghanistan abspielte, übertraf selbst die schlimmsten Befürchtungen. Innerhalb weniger Tage gelang es den Taliban, die Macht zurückzuerobern, von der sie vor bald 20 Jahren vertrieben wurden. Der rasante Vormarsch überrumpelte die Amerikaner und provozierte Vergleiche mit dem unrühmlichen Ende des Vietnamkriegs.
Nun fragen sich viele: Wie konnte das passieren? Wieso konnten die bärtigen Fanatiker mit Kalaschnikows und Enduro-Motorrädern das Land im Eiltempo überrollen und die Hauptstadt Kabul praktisch kampflos einnehmen? Bei genauer Betrachtung aber ist der Siegeszug der Taliban weniger überraschend, als man auf den ersten Blick meinen könnte.
Die Taliban hatten in den letzten Jahren vor allem eines: Zeit. Diese haben sie genutzt, um ihren Vormarsch von langer Hand zu planen. Ihre Strategie erzeugt selbst bei westlichen Experten eine gewisse Bewunderung. «Ich kann mir kaum einen besseren Plan für einen Feldzug vorstellen», sagte der britische Ex-Brigadegeneral Ben Barry der BBC.
Statt von ihren Hochburgen im Süden Afghanistans aus vorzustossen, hätten sie im Norden und Westen angegriffen und eine Stadt nach der anderen eingenommen, betonte Barry. Das habe ihnen ein Momentum verschafft. Gleichzeitig eroberten die Taliban Grenzübergänge und Checkpoints und schnitten die Regierung in Kabul von den Zolleinnahmen ab.
Ausserdem scheint es den Taliban im Verlauf der Jahre gelungen zu sein, die grossen Städte des Landes regelrecht zu infiltrieren und die Offensive quasi aus dem Hinterhalt zu unterstützen. Ein Beispiel ist der Bericht einer BBC-Reporterin, die einen Kommandeur der Taliban interviewen konnte – nicht irgendwo in der Provinz, sondern mitten in Kabul.
«lt takes two to tango», sagte der frühere US-Präsident Ronald Reagan. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass der Triumphzug der Taliban nicht möglich gewesen wäre ohne den faktisch inexistenten Widerstand der afghanischen Regierung und ihrer Streitkräfte. Das überrascht im Fall der schwachen und zutiefst korrupten Regierung wenig.
Den Aufbau einer schlagkräftigen Armee aber liessen sich die Amerikaner seit 2001 rund 83 Milliarden Dollar kosten. Nun zeigt sich, dass sie diese immense Summe für nichts und wieder nichts ausgegeben hatten. Die afghanischen Soldaten leisteten den Taliban kaum Gegenwehr, sie rannten einfach davon und liessen ihre Ausrüstung zurück.
Wirklich schlagkräftig war die afghanische Armee eben nur auf dem Papier. Das betrifft etwa den Bestand von 300’000 Mann, der in der Realität vielleicht halb so gross war. Korrupte Kommandeure kassierten Geld für «Geistersoldaten». Und jene, die kämpfen sollten, klagten über einen ausbleibenden Sold und fehlenden Nachschub.
Letztlich aber nützt die beste Ausbildung und Ausrüstung nichts, wenn eine Armee nicht weiss, wofür sie eigentlich kämpfen soll. Afghanistan ist keine gefestigte Nation, die Menschen definieren sich primär über Stämme, Ethnien und Konfessionen. Eine einigende Klammer hat sich auch in den letzten 20 Jahren kaum herausbilden können.
Das gleiche Problem erlebten die Amerikaner im Irak, wo sie ebenfalls mit enormem Aufwand eine Armee «ausgebildet» hatten. Als die Terrormiliz «Islamischer Staat» 2014 Mossul attackierte, die zweitgrösste Stadt des Landes, kämpften die Soldaten nicht, sie desertierten gleich in Divisionsstärke und überliessen ihre Ausrüstung den Terroristen.
Die Amerikaner änderten darauf ihre Strategie. Sie konzentrierten sich auf die Ausbildung von Elitetruppen, denen es 2017 nach schweren Kämpfen gelang, den «IS» aus Mossul zu vertreiben. Auch in Afghanistan formierten sie solche Einheiten aus Feinden der Taliban, doch für Elitesoldaten ist es einfacher, eine Stadt zu erobern, als ein Land zu verteidigen.
Im März wurde US-Präsident Joe Biden gemäss «New York Times» von der Führungsriege des Pentagons gewarnt, in Afghanistan könne sich ein Szenario wie in Mossul ereignen. Worauf Biden eine simple Frage gestellt habe: Wenn die afghanische Regierung die Taliban jetzt nicht aufhalten kann, wann dann? Eine Antwort konnte man ihm nicht geben.
Wie geht es nach dem raschen Erfolg der Taliban weiter? Kritiker vor allem im Westen sind überzeugt, dass die Schreckensherrschaft der Steinzeit-Islamisten eine Neuauflage erleben wird, mit der Unterdrückung von Frauen und Mädchen und öffentlichen Hinrichtungen. Und dass Afghanistan erneut zu einem «sicheren Hafen» für Terrorgruppen werden wird.
Das jedoch ist eine überheblich-westliche Sichtweise. Sie ignoriert, wie sehr sich die Region verändert hat, seit die Taliban vor 25 Jahren erstmals die Macht ergriffen hatten. Damals war Russland ein zerrüttetes Land unter Präsident Boris Jelzin, China war bestenfalls eine aufstrebende Nation, auch Indien stand erst am Anfang seines Wirtschaftsbooms.
Dank ihrer «Schutzmacht» Pakistan und finanziert durch den Drogenhandel konnten sich die Taliban mit ihrem berüchtigten Anführer Mullah Mohammed Omar vom Rest der Welt weitgehend abschotten sowie ihrem «Kampfgefährten» Osama bin Laden und seiner Al Kaida Gastrecht gewähren, das sie zur Planung der 9/11-Terroranschläge nutzten.
Heute können sie sich das kaum noch erlauben, denn Russland, China, Indien und selbst Iran und Pakistan wurden zum Ziel islamistischer Terroranschläge. Auch das Verhältnis zum Nachbarland Pakistan ist kompliziert geworden, seit sich der dortige Ableger der Taliban seinerseits zu einer Bedrohung für die Regierung entwickelt hat.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Reisen einer hochrangigen Taliban-Delegation nach Moskau und Peking in den letzten Wochen einzuordnen. Sie zeigen einerseits, wie siegesgewiss die Islamisten bereits waren. Gleichzeitig wollten sie Russland und China versichern, dass Afghanistan unter ihrer Herrschaft kein «Terrornest» werden würde.
Beunruhigt sind vor allem die Chinesen, die mit Afghanistan eine knapp 80 Kilometer lange Grenze teilen. Sie fürchten gemäss CNN, dass der Erfolg der Taliban andere Extremisten inspirieren und die Stabilität in der Region gefährden wird. Davon betroffen wäre auch ihr Prestigeprojekt, die Belt and Road Initiative (BRI), bekannt als «neue Seidenstrasse».
Das stellt die Taliban vor Herausforderungen, auch was ihre Herrschaft im Innern betrifft. Ihre Führung könnte sich für einen «Talib Lite»-Ansatz entscheiden, analysiert CNN, und zumindest in den Städten einen «liberalen» (in dicken Anführungszeichen) Weg einschlagen, bei dem Frauen arbeiten und Mädchen zur Schule gehen dürfen. Anzeichen dafür gibt es.
In den ländlichen Regionen aber ist zu befürchten, dass der Steinzeit-Islamismus zurückkehren wird. Grundsätzlich muss man bei den Taliban mit dem Schlimmsten rechnen. Aber vielleicht wissen sie nach ihrem schnellen Erfolg selber nicht, wie es weitergehen soll.
Aber wer, wenn nicht die Afghanen selbst, sollen die Taliban besiegen?
72% der Bevölkerung befürwortet z.B. die Hinrichtung für Apostaten.
Am besten wird dieser innere Zerriss zwischen wunsch nach friedlichem Leben und totalitärer Ideologie illustriert durch dieses Erlebnis: Ein Mann sagte, dass die IS brutal sei und sie den Islam nicht richtig leben. Seinem Sohn sagte er, er solle ihn umbringen, falls er mal vom Islam abfalle.
Neben dem Koran haben sie sicher auch die Kunst des Krieges von Sun Zi gelesen. Das ganze Verhalten war geradezu Lehrbuchmässig
Strategisch war dies eine Meisterleistung.
Das Ziel der Taliban wird jetzt sein möglichst schnell international anerkannt zu werden.