Der deutsche Wahlkampf hat seinen bisherigen Höhepunkt erlebt; dass es sich bei der Debatte, die am Mittwoch im Bundestag stattfand, um eine parlamentarische Sternstunde handelte, wird ausser Vertretern der AfD allerdings kaum jemand behaupten wollen. Am Ende kam es zu Tumulten; von einem historischen Tabubruch war die Rede. Aus Sicht einiger Redner schien gar die Zukunft der deutschen Demokratie auf dem Spiel zu stehen.
Anlass für die Aufregung war ein Entschliessungsantrag, den die oppositionelle Union eingebracht hatte. Das Papier, das rechtlich nicht bindend ist, sieht deutliche Verschärfungen in der Asylpolitik vor. Verabschiedet wurde es mit den Stimmen von Christdemokraten, Christsozialen und Liberalen – und mit denen der AfD. Als Zünglein an der Waage erwies sich das Bündnis Sahra Wagenknecht, das dem Antrag durch Stimmenthaltung zu einer Mehrheit verhalf.
Zwar hatte sich Friedrich Merz, der Chef der CDU und Kanzlerkandidat der Union, im Vorfeld nicht mit der AfD abgesprochen, doch ihre Zustimmung nahm er in Kauf. Den Ton der Debatte setzte der sozialdemokratische Kanzler Olaf Scholz bereits Stunden vor der Abstimmung: Merz habe eine Kooperation mit der rechtsradikalen Partei stets ausgeschlossen, nun werde er wortbrüchig, warf Scholz dem CDU-Chef vor. Merz' Ideen – unter anderem sollen Schutzsuchende, die aus sicheren Herkunftsländern einreisen, künftig an den deutschen Grenzen abgewiesen werden – seien rechtswidrig und «antieuropäisch», sagte Scholz.
Dass der Kanzler dem Oppositionsführer indirekt unterstellte, dieser könnte nach der Bundestagswahl Ende Februar eine Koalition mit der AfD eingehen, empörte Merz. «Niederträchtig und infam» seien derartige Spekulationen. Nach den Anschlägen von Magdeburg und Aschaffenburg müssten endlich Massnahmen gegen den Zustrom illegaler Flüchtlinge ergriffen werden, sagte der CDU-Chef. SPD und Grüne befänden sich in der Minderheit und nutzten die AfD als Werkzeug, um den Willen der Bevölkerung zu ignorieren. Tatsächlich befürwortet laut Umfragen eine Mehrheit der Deutschen eine strengere Asylpolitik.
Länder wie Italien, Dänemark oder die Niederlande täten längst, was er fordere, erklärte Merz. Die europäische Einwanderungs- und Asylpolitik sei dysfunktional, also brauche es einen Vorrang nationalen Rechts, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet seien. Wenn es am Ende die AfD sei, die seinem Antrag zu einer Mehrheit verhelfe, seien SPD und Grüne schuld, sagte er. «Es ist Ihre Entscheidung, ob es eine Mehrheit der Mitte gibt», rief er er den Abgeordneten der Regierungsparteien zu.
Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Kanzlerkandidat der Grünen, warf Merz vor, gemeinsam mit Rassisten zu stimmen. Christian Lindner, der Chef der FDP, stellte sich dagegen hinter die Union und nahm ebenfalls die SPD in die Pflicht: In Dänemark hätten die Sozialdemokraten die Rechtspopulisten durch eine strenge Migrationspolitik an die Wand gedrückt. In der Ampel-Koalition, die im November zerbrach, habe man jede Verschärfung in der Asyl-Politik gegen die Grünen durchsetzen müssen, sagte Lindner. Diese seien «Steigbügelhalter der AfD».
Von der AfD versuchten sich Merz und seine Parteikollegen zu distanzieren, indem sie diese in ihrem Antrag mit kritischen Worten bedachten. Um sich für eine Verschärfung der Asyl-Politik auszusprechen, musste sich die rechtsradikale Partei also selbst verurteilen.
Ein Hindernis sahen die AfD-Abgeordneten darin offenbar nicht: Dass sich die Union an ihrer Partei abarbeite, sei zwar «verantwortungslos und infantil», erklärte die AfD-Chefin Alice Weidel, doch stimme ihre Fraktion «jedem vernünftigen Vorschlag» zu. Im Übrigen habe die Union ihren Antrag von der AfD abgeschrieben, behauptete Weidel.
Die metaphorische «Brandmauer», die die etablierten Parteien gegenüber der AfD errichtet haben, inspirierte Weidel zu einer polemischen Wortschöpfung: Die Opfer von Anschlägen wie in Magdeburg und Aschaffenburg nannte sie «Brandmauertote», offenbar unter Anspielung auf die Mauertoten an der einstigen deutsch-deutschen Grenze.
Von den äusserst heftigen Anwürfen, denen Merz nach der Abstimmung ausgesetzt war, scheint sich der CDU-Chef nicht beeindrucken zu lassen: Bereits am Freitag will er einen Gesetzentwurf ins Parlament einbringen, der unter anderem vorsieht, dass Personen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht ihre Familienmitglieder künftig nicht mehr nachholen dürfen. Ausserdem sollen der Bundespolizei mehr Kompetenzen im Kampf gegen illegale Migration eingeräumt werden.
Bei der AfD herrschte nach der Abstimmung Jubel: Die «Brandmauer» sei gefallen, die Zeit der linken Dominanz zu Ende, sagten AfD-Abgeordnete sinngemäss. Die Stimmung bei der Union blieb dagegen verhalten.
Vermutlich wird Merz nach der Wahl mit der SPD oder den Grünen koalieren müssen. Wer deren Vertretern am Mittwochabend lauschte, konnte meinen, die Vertrauensbasis zwischen ihnen und Merz sei für immer zerstört. Der CDU-Chef wird aber wohl darauf vertrauen können, dass die Aussicht auf Ministerposten die Wogen glättet. (aargauerzeitung.ch)