Ursprünglich hätten die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments den Sommer im Urlaub verbringen sollen. Doch stattdessen steht ihnen eine der politisch spannendsten Wochen seit Beginn des russischen Grossangriffs im Februar 2022 bevor. Hintergrund ist ein umstrittenes Gesetz, das erst am 22. Juli im Eiltempo verabschiedet wurde – und das die Unabhängigkeit der ukrainischen Antikorruptionsbehörden stark einschränkte.
Nun soll das Parlament bereits an diesem Donnerstag über einen neuen Gesetzentwurf von Präsident Wolodimir Selenskyj abstimmen, der diesen Schritt weitgehend zurücknimmt. Konkret will Selenskyj die Unterstellung zentraler Institutionen wie des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAP) unter die Kontrolle des von ihm ernannten Generalstaatsanwalts rückgängig machen.
Zwar stellt der neue Entwurf nicht exakt den rechtlichen Zustand vor dem 22. Juli wieder her. Doch die betroffenen Institutionen, die das ursprüngliche Gesetz scharf kritisierten, zeigen sich mit dem Kompromiss zufrieden und drängen auf eine schnelle Verabschiedung.
Der Antikorruptionsausschuss der Werchowna Rada hat den Entwurf bereits am Dienstag einstimmig gebilligt. Dass das Gesetz letztlich verabschiedet wird, gilt daher als nahezu sicher – nicht zuletzt, weil ein Teil der EU-Finanzhilfen davon abhängt. Brüssel hatte offen mit der Kürzung dieser Mittel gedroht. Politisch bleibt der Rückzieher dennoch folgenreich – sowohl für Selenskyj als auch für das Parlament.
Es ist das erste Mal während seiner Präsidentschaft, dass der ukrainische Präsident in einer solch öffentlichen Angelegenheit deutlich zurückrudert. Dabei galt er – schon zu Zeiten als Fernsehproduzent – als harter und durchsetzungsstarker Chef. Das ursprüngliche Gesetz dürfte in der Annahme entstanden sein, dass NABU und SAP in der breiten Bevölkerung kaum Rückhalt geniessen. Tatsächlich misstrauen laut einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums vom März 2024 jeweils 62 Prozent der Befragten den beiden Institutionen – ein Spiegelbild des allgemeinen Misstrauens gegenüber ukrainischen Strafverfolgungsbehörden.
Zudem war die Bilanz der Antikorruptionsbehörden durchwachsen. Viele spektakuläre Verfahren endeten bislang nicht mit einem Urteil – was allerdings auch an Problemen beim Hohen Antikorruptionsgericht (WAKS) liegt, einer weiteren unabhängigen Struktur.
Selenskyj hatte die Reaktion der Zivilgesellschaft auf das Gesetz offenbar unterschätzt. Bereits ab dem zweiten Tag nach dessen Verabschiedung wuchs der Protest – trotz der Kriegsumstände – stärker als erwartet. Neben dem Inhalt sorgte auch das Verfahren für Empörung: Die über Nacht erfolgte Umschreibung eines Gesetzentwurfs zu einem völlig anderen Thema, eine Abstimmung in zwei Lesungen binnen Stunden und die sofortige Unterzeichnung durch den Präsidenten erinnerten viele Beobachter an die Praxis des gestürzten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch.
Auch die deutliche Reaktion der EU – mit scharfer Kritik und der Drohung, Finanzmittel zu streichen – scheint die Präsidialverwaltung in ihrer Härte überrascht zu haben.
Zwar muss Selenskyj kurzfristig keine gravierenden Einbussen bei seiner Beliebtheit befürchten – die Proteste kamen überwiegend von seinen Kritikern. Doch seinem Image als integrer Reformer hat er geschadet. Besonders heikel: Selbst ein Teil seiner Anhänger, die den Antikorruptionsinstitutionen eher skeptisch gegenüberstehen, sieht nun einen Präsidenten, der in einer wichtigen Frage zurückweicht.
Langfristig könnte dies die Machtbalance im Parlament verschieben. Denn die absolute Mehrheit seiner Partei «Diener des Volkes», mit der der Präsident 2019 angetreten war, existiert nur noch auf dem Papier. Für ein Gesetz braucht es 226 Stimmen – die Präsidentenfraktion bringt seit Jahren meist nur 180 bis 190 Stimmen zusammen. Unterstützung erhält Selenskyj vor allem von kleineren Gruppen: ehemalige Mitglieder der prorussischen Oppositionsplattform, die sich durch Loyalität gegen mögliche Hochverratsverfahren absichern wollen, sowie Fraktionen mit eigenen wirtschaftlichen Interessen.
Unter den Abgeordneten der Präsidentenpartei, die den ursprünglichen Entwurf unterstützten, gab es drei Lager: überzeugte Befürworter, klare Gegner – und solche, die schlicht dem Willen des Präsidenten folgten. Alle drei Gruppen dürften mit dem Ablauf der vergangenen Woche unzufrieden sein. Auch wenn der neue Entwurf wohl verabschiedet wird, weil er für das Verhältnis zur EU entscheidend ist – Selenskyj dürfte künftig weniger sicher sein, die Rada geschlossen hinter sich zu wissen. Selbst in den eigenen Reihen.
Dass die Russen die Möglichkeiten einer offenen Gesellschaft für ihre Zwecke missbrauchen, muss uns allerdings ebenso klar sein!
Die Balance zwischen einem Krieg mit seinen Zwängen und einem Frieden, der bereits in diesem Krieg keimen soll, ist extrem schwierig zu halten, und genau darauf setzen auch Putin und sein Terrorstaat, dass die Ukraine taumelt und abstürzt...