Der Fall von Pokrowsk ist absehbar. Die strategisch wichtige Stadt im Donbas, um die seit einem Jahr gekämpft wird, ist mittlerweile auf drei Seiten von russischen Truppen eingekesselt; dass die ukrainischen Verteidiger sich zurückziehen müssen, scheint nur eine Frage der Zeit.
Die Eroberung von Pokrowsk wäre für die russische Armee ein bedeutender Erfolg, weil die Ortschaft wegen ihrer Bahnanbindung und der Kreuzung mehrerer wichtiger Strassen ein bedeutendes Logistikzentrum für die ukrainischen Truppen ist. Zugleich dürfte sich die Einnahme der Stadt auch negativ auf die Moral der Ukrainer auswirken – erneut wäre dann eine Bastion trotz langen und erbitterten Widerstands gefallen.
Gleichwohl ist ein Zusammenbruch der ukrainischen Front kaum zu erwarten; die Verteidiger haben zuvor auch den Verlust von Bachmut und Awdijwka überstanden, ohne dass die russischen Angreifer danach weiträumig vorzurücken vermochten. Für die Ukraine wird die Luft dennoch allmählich dünn; besonders die enormen Verluste an Soldaten sind für sie bedrohlicher als für den viel grösseren Gegner Russland. Wie stellt sich die Lage für die Ukraine dar?
Seit der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2023 ist die ukrainische Armee langsam, aber stetig auf dem Rückzug. Der Vorstoss auf russisches Gebiet in der Oblast Kursk hat daran nichts geändert; er hat vielmehr kampfkräftige ukrainische Einheiten aus dem bedrängten Donbas abgezogen, die dort fehlten. Der mit ungeheuren Verlusten erkaufte russische Vormarsch an der 1200 Kilometer langen Front ist bisher sehr langsam; in den vergangenen anderthalb Jahren hat Russland nur gerade rund 6000 Quadratkilometer erobert – das entspricht etwa der Fläche des Kantons Bern. Allerdings dringen die russischen Truppen im aktuellen Jahr etwas schneller vor als 2024.
Dass die russische Armee nur so langsam vorrückt, ist für die ukrainischen Verteidiger jedoch keineswegs beruhigend. Ein Abnutzungskrieg zeichnet sich in aller Regel durch einigermassen stabile Fronten aus; doch wenn dann eine Seite erschöpft ist, kann sich die Lage plötzlich sehr schnell ändern. Auch wenn es den Ukrainern immer wieder gelingt, russische Vorstösse zurückzudrängen, wie aktuell in der Region Sumy im Norden, setzt das Vordringen der Russen die wichtigsten ukrainischen Verteidigungslinien im Osten immer mehr unter Druck. Die letzten Geländegewinne haben dazu geführt, dass die russische Armee nun in einer besseren Position ist, um etwa die drei wichtigen Ortschaften Pokrowsk, Kostantinowka und Kupjansk einzukreisen.
Die ukrainischen Streitkräfte haben seit Kriegsbeginn immer wieder erstaunliche Resilienz gezeigt und auch mit überraschenden Aktionen das russische Militär blamiert – man denke an den Drohnenangriff auf die strategische Bomberflotte Russlands Anfang Juni. Doch «die Russen zögern nicht, von uns zu lernen, sie übernehmen unsere besten Praktiken und verbreiten sie bei sich, auch in der Technologie», wie Marija Berlinska, eine ukrainische Drohnenspezialistin, auf der Internetplattform Dekoder feststellt.
Tatsächlich hat Russland, während der Westen schlief, in die Entwicklung und Produktion von Drohnen investiert. Nun setzt der Kreml immer mehr Raketen und Drohnen gegen die Ukraine ein und baut seine Produktionskapazitäten entsprechend aus. Das amerikanische Institute for the Study of War (ISW) schätzt, dass die russische Armee bis November dieses Jahres bis zu 2000 Drohnen pro Nacht einsetzen könnte – eine Menge, die die ukrainische Luftabwehr überfordert.
Hinzu kommen weitere Anpassungen der russischen Taktik, etwa der pausenlose Einsatz von Gleitbomben mit einer Reichweite von 50 Kilometern oder mehr. Da die begrenzten ukrainischen Luftabwehrkapazitäten zum Schutz der Metropolen vor russischen Terrorangriffen eingesetzt werden müssen, können sie die Flugzeuge, die diese Gleitbomben weit hinter der Front abwerfen, nicht bedrohen. Die Gleitbomben zerstören die Bunker der ukrainischen Drohnen-Operateure, worauf kleine Sabotage-Trupps, gefolgt von mobilen Trupps auf Motorrädern und Buggys, die ukrainischen Linien infiltrieren.
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 haben beide Konfliktparteien horrende Verluste an militärischem Personal erlitten, so viel ist deutlich. Über die Grössenordnung dieser Verluste herrscht indes keine Einigkeit, zumal die Ukraine wie Russland dazu neigen, die Verluste des Gegners zu überschätzen. So sind nach ukrainischen Angaben bis zum Juli 2015 mehr als eine Million russischer Soldaten getötet oder verwundet worden. Schätzungen der Nato liegen niedriger; demnach lagen die russischen Gesamtverluste – Gefallene und Verwundete – bis Herbst 2024 bei rund 600'000 Soldaten. Bis zu 250'000 sollen getötet worden sein.
Die ukrainischen Verluste – laut Schätzungen könnten sie zwischen 60'000 und 100'000 Gefallenen liegen – gelten allgemein als niedriger, doch sie fallen angesichts der geringeren ukrainischen Bevölkerung (knapp 40 Millionen gegenüber rund 144 Millionen) mindestens ebenso ins Gewicht. Der ukrainischen Armee droht deshalb eine sich stetig verschärfende Personalknappheit – obwohl kürzlich das Wehrpflichtalter gesenkt wurde und Strafgefangene amnestiert werden, die sich freiwillig zum Dienst melden.
Laut einem Facebook-Post des ehemaligen Parlamentariers und Offiziers Igor Lutsenko will die ukrainische Armee monatlich 30'000 neue Soldaten rekrutieren, wie der «Blick» berichtet. Dies gelinge ihr jedoch derzeit nicht. Zugleich sollen laut Lutsenko jeden Monat 8000 Soldaten getötet und gleich viele verwundet werden. Mit Einbezug von Deserteuren und Kriegsgefangenen verliere die Ukraine so mindestens 15'000 Mann pro Monat. «In zwei Jahren wird niemand mehr an der Front stehen, wenn wir einfach so weitermachen», warnt Lutsenko.
Demgegenüber erscheint das russische Reservoir an potenziellen Soldaten nahezu unerschöpflich. Zumindest haben sich Voraussagen nicht erfüllt, wonach Russland 2024 wegen der horrenden Verluste die kampffähigen Soldaten ausgehen würden. Die Aussage der österreichischen Aussenministerin Beate Meinl-Reisinger in einem Interview mit der «Welt», Russland erleide derart «enorme Verluste», dass es für Moskau immer schwerer werde, diesen Krieg fortzuführen, ist daher mit Vorsicht zu geniessen.
Der Kreml, so der in der Ukraine lebende Autor Nikolai Karpizki in einem von Dekoder übernommenen Beitrag, greife bei der Rekrutierung seiner Soldaten auf eine Tradition zurück, die bereits im Zarenreich vorhanden gewesen sei: die rücksichtslose Ausbeutung menschlicher Ressourcen. Die Nutzung der eigenen Bevölkerung als Verbrauchsmaterial habe Siege durch Masse ermöglicht, ohne dass Rücksicht auf Verluste nötig gewesen sei. Dies sei nur möglich in einem Staatssystem, in dem Armut und Rechtlosigkeit herrsche.
Zur Bevölkerungsmehrheit in Russland, die dies unterstütze, gehöre auch die arme Bevölkerung in strukturschwachen Gebieten. Karpizki schreibt:
Überdies gebe es in der russischen Bevölkerung kaum Mitleid mit den Freiwilligen, was die Gesellschaft unempfindlich gegenüber militärischen Verlusten mache.
All dies ermöglicht es der russischen Armeeführung, weit mehr Freiwillige zu rekrutieren als die Ukraine. Und sie muss auch im Hinblick auf die Heimatfront weniger Rücksicht auf Verluste nehmen. Hinzu kommt, dass Nordkorea zusätzlich «Freiwillige» nach Russland schickt – nach südkoreanischen Geheimdienstangaben sollen es im kommenden August 30'000 sein.
Ohne Waffenlieferungen und Finanzhilfen aus dem Westen, besonders aus den USA, hätte die Ukraine schon längst kapitulieren müssen. Deswegen reagierte Kiew mit wachsender Nervosität auf die Verlautbarungen von Donald Trump seit dessen Amtsantritt Anfang 2025. Zunächst sah es tatsächlich so aus, als plane der amerikanische Präsident, die Ukraine zu umfangreichen Konzessionen zu zwingen, um einen schnellen Frieden zu ihren Lasten abschliessen zu können. Wie die österreichische Aussenministerin Beate Meinl-Reisinger in ihrem Interview mit der «Welt» sagte, war Trump sogar bereit, die Krim und Teile der Ostukraine dem russischen Präsidenten Wladimir Putin «auf dem Silbertablett» zu servieren. Im März stoppte die US-Regierung die Militärhilfe an Kiew vorübergehend.
Trump schwenkte allerdings um, als Putin auf Zeit spielte und ihm damit einen schnellen Erfolg versagte. Zugleich liess Putin ukrainische Städte immer heftiger bombardieren und zeigte damit, dass er keinen Frieden will. Mittlerweile mehren sich die Anzeichen, dass Trump zunehmend frustriert über Putin ist. So gab Trump am vergangenen Montag bekannt, er werde die Frist von 50 Tagen für deutlich höhere Zölle, die Russlands Handelspartner treffen sollen, verkürzen. Angesichts der notorisch erratischen Politik des US-Präsidenten ist ein erneuter Umschwung indes nicht ausgeschlossen.
Trumps isolationistische Agenda hat jedoch bereits dafür gesorgt, dass sich die Hilfeleistungen für die Ukraine seit März 2025 deutlich verschoben haben: Während die USA im März und April keine neuen Hilfen bereitstellten, bauten die europäischen Länder ihre Unterstützung aus, allen voran die nordischen Staaten und Grossbritannien. Zum ersten Mal seit Juni 2022 übertraf Europa damit laut Daten des Ukraine Support Trackers die USA bei der gesamten Militärhilfe – mit insgesamt 72 Milliarden Euro gegenüber 65 Milliarden aus den USA.
Um die Gegenwehr der Ukraine gegen die russischen Terrorangriffe auf ihre Städte zu stärken, sollen nun weitere fünf Patriot-Systeme aus europäischen Staaten geliefert werden; die dadurch entstehenden Lücken sollen rasch mit neuen Systemen aus US-Produktion ersetzt werden. Diese teuren Luftabwehrsysteme sind freilich gegen Angriffe von Schwärmen billiger Drohnen weitgehend nutzlos; gegen diese sind Verteidigungsdrohnen oder Systeme wie der Gepard-Luftabwehrpanzer besser geeignet.
Den Geldfluss aus der Europäischen Union hat ausgerechnet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst gefährdet: Mit der Unterzeichnung eines Gesetzes, das die ukrainische Anti-Korruptionsbehörde schwächt, hat Selenskyj harsche Reaktionen aus Brüssel provoziert. Die Auszahlung der nächsten Tranche im Umfang von drei bis vier Milliarden Euro aus dem Topf der sogenannten Ukraine-Fazilität macht die EU nun vom weiteren Verlauf der Anti-Korruptions-Gesetzgebung in der Ukraine abhängig.
Selenskyj ruderte zwar umgehend zurück, als es zu Protestkundgebungen in mehreren ukrainischen Städten kam. Doch der Vorgang warf ein Licht auf «die innenpolitische Zerrissenheit, die Säuberungen und Machtkämpfe» in der Ukraine, «die das Land von innen heraus in einer Weise zerreissen könnten, die weitaus schädlicher ist als alles, was die Russen mit Gewalt erreichen können», wie der «Economist» es formulierte.
Der Westen hat mit umfangreichen Sanktionen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert. Sie kamen zu den Massnahmen hinzu, die bereits 2014 aufgrund der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Krim verhängt wurden. Die EU hat die Sanktionen seit 2022 schrittweise verstärkt. Doch bisher haben sie nicht dazu geführt, die Fähigkeit Russlands zur Kriegsführung wesentlich einzuschränken.
Die EU hat die Einfuhr von Kohle und Öl aus Russland verboten, doch Moskau hat dies durch gesteigerte Exporte nach China und Indien kompensiert. Zudem gelangt nach wie vor russisches Öl über ausländische Öltanker – die sogenannte Schattenflotte – nach Europa. Und Russland liefert so viel Flüssigerdgas (LNG) in die EU wie nie zuvor. Die EU will den Import erst bis 2027 verbieten. Die Erlöse aus dem Öl- und Gasexport sind – obwohl sie nach einem Anstieg 2024 im laufenden Jahr aufgrund des gefallenen Ölpreises stark zurückgegangen sind – nach wie vor die wichtigste Einnahmequelle für den russischen Staatshaushalt.
Das westliche Embargo für elektronische Bauteile, Software und optische Linsen, die für Hightech-Waffen benötigt werden, stellt die russische Rüstungsindustrie zwar vor Probleme, doch zumindest ein Teil des Bedarfs wird nun durch China gedeckt. Am stärksten treffen Moskau die Finanzsanktionen, da sie es erschweren, auf dem Finanzmarkt Geld zu leihen. Sie heizen zudem die Inflation in Russland an.
Insgesamt schädigen die Sanktionen die russische Wirtschaft eher auf mittlere oder lange Frist. Derzeitig wächst sie um drei Prozent, was freilich vor allem mit den hohen staatlichen Investitionen in die Rüstungsindustrie zu tun hat. Daher boomt hauptsächlich der militärisch-industrielle Sektor, während der zivile Sektor unter Arbeitskräftemangel und Ressourcenknappheit leidet. Auch der Umstand, dass die Einnahmen aus dem Ölverkauf nicht mehr in den Nationalen Wohlfahrtsfonds fliessen, sondern direkt in die Aufrüstung, wirkt sich im Moment noch nicht aus. Doch der Fonds, aus dessen Mitteln der Kreml das derzeitige Defizit deckt, dürfte Ende des Jahres praktisch leer sein – und eine Ersatzfinanzierung ist nicht in Sicht, wie die NZZ schreibt.
Ausser der Inflation, die sich zuletzt aber etwas abgeschwächt hat, bewirken die Sanktionen mithin für die russische Bevölkerung noch keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich allenfalls in innenpolitischen Druck auf den Kreml umsetzen könnten. Höhere staatliche Militärausgaben – der Kreml erhöhte sie für 2025 auf 6,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, den höchsten Stand seit dem Kalten Krieg – führen sogar dazu, dass die Nachfrage im Inland steigt und damit auch die Löhne. Allerdings schrumpft aufgrund der hohen Militärausgaben – es sind 40 Prozent der staatlichen Gesamtausgaben – das Budget für Soziales, Bildung und Gesundheit.
Die Ukraine ist zweifellos unter Druck, mehr als noch zu Beginn der russischen Sommeroffensive. Die westliche Hilfe reicht nicht aus, um den Abnutzungskrieg gegen Russland zu gewinnen – der Westen lässt die Ukraine, wie schon früher bemängelt wurde, sozusagen am ausgestreckten Arm verhungern. Zu schaffen machen der ukrainischen Armee vor allen Dingen die hohen Verluste an Soldaten, die für die kleinere Ukraine mehr ins Gewicht fallen als die horrenden Verluste der russischen Armee für Russland.
Der Druck auf die Verteidiger steigt zudem, weil Russland den Luftkrieg zunehmend intensiviert, vornehmlich den Drohnenkrieg. Die ukrainische Luftabwehr kann nicht gleichzeitig die Front und die ukrainischen Grossstädte verteidigen. Zudem hat Russland neue Taktiken eingeführt, gegen die die ukrainische Verteidigung mit Drohnen weniger effizient zu sein scheint als zuvor.
Russland, bei Truppenstärke und Rekrutierungspotenzial überlegen, geht weiterhin ohne Rücksicht auf Verluste vor; der Kreml muss vorderhand keine nennenswerte Opposition gegen den Krieg fürchten. Die russische Wirtschaft, die mittlerweile auf Kriegsproduktion ausgerichtet ist, zeigt noch keine wesentlichen Anzeichen von Schwäche. Auf Dauer dürften sich jedoch die westlichen Sanktionen und die hohen Militärausgaben negativ auswirken.
Ohne substanzielle westliche Militärhilfe droht der Ukraine im besten Fall die langsame Zurückdrängung der Front und eventuell der Verlust der Gebiete östlich des Dnipro. Im schlimmsten Fall bricht die Front unter dem stetigen Druck zusammen und ermöglicht der russischen Armee weiträumige Vorstösse nach Westen.
Was ist der Plan des Westens, die Ukraine langsam opfern und Russland möglichst schwächen. Oder hoffen Putin geht das Material, die Soldaten oder die Unterstützung im Land aus. Oder wie soll es nun weiter gehen?