Das erste Kriegsjahr war für die russische Armee eine einzige Blamage. Vor Kiew wurden ihre Panzer zerstört und der Angriff abgewehrt. Im Herbst überraschten die Ukrainer die Russen mit gezielten Angriffen, eroberten in Nordosten rund um Charkiw und im Süden rund um Cherson weite Gebiete zurück und zwangen die russischen Soldaten zu einer teilweise ungeordneten Flucht.
Grosse Hoffnungen wurden deshalb auf das zweite Kriegsjahr gesetzt. Ein Vorstoss der Ukrainer zum Asowschen Meer und gar eine Rückeroberung der Halbinsel Krim schienen erreichbare Ziele. Stattdessen jedoch gelang es nicht, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen. Die Armeen befinden sich seit Monaten in einem zähen Stellungskrieg, in dem keine der beiden namhafte Gewinne verbuchen kann.
Dieses Patt kommt Wladimir Putin entgegen. Er setzt darauf, dass er die grösseren Reserven an Soldaten und Kriegsmaterial hat und deswegen die Ukrainer zermürben kann. Zudem hat er offenbar die Blamage des operettenhaften Aufstandes von Jewgeni Prigoschin verdaut und dafür gesorgt, dass der ehemalige Anführer der berüchtigten Wagner-Söldner nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Gleichzeitig ist die Wirtschaft dank chinesischer Hilfe und der Tatsache, dass Länder wie die Türkei nach wie vor Exporte nach Russland zulassen, nicht eingebrochen. Putin kann sich gemäss Umfragen nach wie vor auf die Unterstützung seiner Landsleute verlassen, und die Menschen sind offenbar bereit, eine Kriegswirtschaft zu akzeptieren.
Vor allem jedoch darf sich Putin über die Weihnachtsgeschenke freuen, die ihm der Westen überreicht. In den USA ist ein 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket an die Ukraine im Kongress blockiert, ein Paket, das in Kiew dringend benötigt wird. Die Umstände dieser Blockade sind absurd. Eine Mehrheit der Senatoren und der Abgeordneten sind nämlich nach wie vor gewillt, die Hilfe weiterzuführen. Die Blockade ist das Resultat eines innenpolitischen Zwists zwischen den beiden Parteien in Washington.
Die Republikaner haben ihre Zusage abhängig gemacht von Zugeständnissen, welche Präsident Joe Biden und Demokraten machen müssen, um den Zustrom an Immigranten an der Grenze zu Mexiko zu stoppen. Weil die Situation an dieser Grenze tatsächlich unhaltbar geworden ist, sind die Demokraten bereit, einzulenken. Die Forderungen der Republikaner sind jedoch derart radikal, dass bisher kein Kompromiss gefunden werden konnte, selbst im Senat nicht, wo es noch vereinzelte Vertreter der Grand Old Party (GOP) gibt, mit denen rationale Verhandlungen möglich sind.
Sollte es im Senat zu einem Kompromiss kommen, ist die Kuh noch nicht vom Eis. Dann nämlich müssen auch noch die Abgeordneten zustimmen, und das ist weit schwieriger. Im Repräsentantenhaus haben die «Verrückten» innerhalb der GOP das Sagen. Diese haben nur ein Ziel, das Fiona Hill, die renommierte ehemalige Sicherheitsberaterin, in einem Interview mit dem Newsportal Politico wie folgt umschreibt: «Das Problem besteht darin, dass viele Mitglieder des Kongresses nicht wollen, dass Biden an irgendeiner Front einen Sieg einfahren kann. Diese Typen sind nicht in der Lage zu unterscheiden, was es heisst, Biden gewinnen zu sehen oder die Ukraine gewinnen zu sehen. Sie denken nicht an die Sicherheit der USA, von Europa und der internationalen Ordnung. Sie wollen einzig Biden demütigen.»
Die EU will der Ukraine ebenfalls ein 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket zukommen lassen, doch auch dieses Paket ist blockiert. Gemäss den geltenden EU-Regeln muss die Zustimmung zu dieser Hilfe einstimmig gefällt werden. Viktor Orbán, der Premierminister von Ungarn, legt sich jedoch bisher quer. Dank eines Tricks ist es zwar gelungen, die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen an ihm vorbeizuschleusen. Doch wenn es um Geld geht, bleibt Orbán stur. «Jetzt der Ukraine 50 Milliarden Euro aus dem EU-Budget zukommen zu lassen, ist eine schlechte Entscheidung, denn die EU hat kein Geld», sagt er.
Der ungarische Premier ist zwar meist ein Einzelkämpfer, doch diesmal glaubt er, Unterstützung zu erhalten. Umfragen zeigen, dass auch in Europa die Kriegsmüdigkeit wächst. Zudem haben russlandfreundliche Politiker bei Wahlen Teilsiege errungen. In der Slowakei ist Robert Fico zum Premierminister gewählt worden mit dem Versprechen, keinen Cent Militärhilfe mehr der Ukraine zukommen zu lassen. In den Niederlanden hat der rechtsextreme Geert Wilders einen überraschenden Sieg errungen, auch er ein notorischer Putin-Versteher.
Patt auf dem Schlachtfeld, geordnete Verhältnisse und eine stabile Wirtschaft im Innern, und unverhoffte Weihnachtsgeschenke aus Washington und Brüssel: Putin hat allen Grund, erneut seine Kriegsziele in die Welt zu posaunen. Nach wie vor will er eingebildete Nazis in der Ukraine besiegen und die NATO an die ehemaligen Grenzen des Eisernen Vorhangs zurückdrängen. Was aber, sollte er diese Ziele tatsächlich erreichen? Was, wenn Russland gewinnt?
In den «Financial Times» fasst Simon Kuper die Folgen eines Putin-Siegs in fünf Punkten zusammen:
Für Fiona Hill wäre selbst ein Teilsieg Putins eine Katastrophe. «Er würde bereits die nächsten Schritte dieses Spiels antizipieren, während alle anderen sich noch auf der Stelle bewegen würden. Wie der Judo-Kämpfer, der er in seiner Jugend war, denkt er in Runden eines Turniers. Gewinnt er die erste Runde nicht, dann vielleicht die zweite und gelangt so zum Sieg.»
Aus diesen Gründen ist ein «eingefrorener Konflikt» wie etwa im geteilten Korea oder im geteilten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg keine Option. «Für Putin wäre das ein grosser Sieg», so Hill, «denn es würde ihm eine Plattform bieten für weitere Angriffsversuche.»
Ein Sieg der russischen Armee ist zwar denkbar geworden, doch keineswegs sicher. Die Ukrainer sind entschlossen, weiterzukämpfen, komme, was wolle. Dazu kommt, dass Russland für das Patt auf dem Schlachtfeld einen hohen Blutzoll entrichten muss. Die russischen Verluste an Menschen und Material übersteigen diejenigen der Ukraine bei Weitem. Amerikanische Geheimdienste schätzen, dass die Ukraine gegen 90 Prozent der Armee der Vorkriegszeit vernichtet hat.
Kommt dazu, dass die Ukraine bisher den grössten Teil der westlichen Waffen noch nicht eingesetzt hat. Im Frühjahr werden endlich die F-16-Kampfjets verfügbar sein. Schliesslich sind die Chancen intakt, dass die westlichen Hilfspakete zwar mit einer Zangengeburt auf die Welt gebracht werden müssen, dass sie jedoch trotz allem zustande kommen.
Zu viel steht auf dem Spiel. Eine Niederlage der Ukraine wäre auch eine fatale Niederlage des Westens, und die Folgen weitreichend. «Wir würden uns gegenseitig fertigmachen», so Hill. «Es gibt keine Option für ein glückliches Ende.»
Und ja, die SVP schadet. Immer.
Und ja, die SVP ist brandgefährlich.
Quellen: https://www.srf.ch/news/schweiz/ungarischer-premier-in-zuerich-stehende-ovationen-und-bewunderung-fuer-viktor-orban und weltwoche.ch