Sie begrüssten sich freundlich, waren nett im Ton, im wichtigsten Streitpunkt aber blieben die Fronten verhärtet. US-Präsident Joe Biden und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin konnten am Videogipfel vom Dienstag keinen Durchbruch im Ukraine-Konflikt erzielen. Immerhin bezeichnete Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan den Austausch als «nützlich».
Die Lage im Grenzgebiet zwischen Russland und der Ukraine aber bleibt angespannt. Zum zweiten Mal in diesem Jahr ist die russische Armee mit rund 100’000 Mann und schwerem Gerät aufmarschiert. Beobachter sehen darin das Vorspiel zu einer Invasion des Nachbarlandes, das sich nach dem Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren für unabhängig erklärte.
Der frühere KGB-Agent Putin konnte sich damit nie abfinden. Für Aufsehen sorgte im Sommer ein auf der Website des Kreml veröffentlichter und von ihm unterzeichneter Essay mit dem vielsagenden Titel «Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer». Darin verwendet Putin für den Nachbarn die despektierliche Bezeichnung «Kleinrussland».
Plant Putin somit, «nach der Schande von 1991 die Mission der Wiedervereinigung des ‹dreieinigen Volkes› aus Russen, ‹Kleinrussen› und Weissrussen zu vollziehen», wie die NZZ schrieb? Im Fall von Belarus ist ihm dies weitgehend gelungen, der früher ziemlich eigensinnige Diktator Alexander Lukaschenko hat sich ihm faktisch unterworfen.
Die Ukraine aber ist ein sehr viel schwieriger Fall. Sie ist der flächenmässig grösste Staat, dessen Grenzen vollständig in Europa liegen. Nicht nur dieser Faktor erschwert einen möglichen Angriff. Die ukrainische Armee ist nicht mehr so schwach wie 2014, als Russland die Halbinsel Krim mit den «kleinen grünen Männchen» kampflos annektieren konnte.
Sie ist durch die Kämpfe im Donbass gegen die von Russland unterstützten Separatisten gestählt und wurde vom Westen mit modernen Waffen ausgerüstet, darunter Panzerabwehrlenkwaffen. «Eine russische Invasion würde auf heftigen Widerstand stossen, mit enormen Verlusten auf beiden Seiten», meint CNN-Kolumnistin Frida Ghitis.
Ein Einmarsch mit Bodentruppen würde zudem den Osten der Ukraine treffen, in dem mehrheitlich russischsprachige Menschen leben. Diese wären die Leidtragenden, obwohl gerade sie noch am ehesten Sympathien hätten für Putins Vereinigungs-Fantasie. Der Westen des Landes hingegen ist nach Europa orientiert und würde sie nicht akzeptieren.
Ohnehin hätte ein Einmarsch in die Ukraine das Potenzial, «exakt das gegenteilige Resultat von dem zu erzielen, was Putin angeblich heute will», meint Frida Ghitis. Er möchte einen Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens verhindern und verlangt von Joe Biden juristisch verbindliche Garantien. Doch der US-Präsident kann nicht einfach über diese Länder verfügen.
Eine russische Invasion in der Ukraine würde die Osteuropäer erst recht in die Arme der USA und der Nato treiben. Sicherheitsberater Sullivan betonte nach dem Videogipfel, man werde in einem solchen Fall die Verbündeten und auch die Ukraine weiter aufrüsten. Gleichzeitig drohte er Russland mit neuen, erheblich schärferen Wirtschaftssanktionen.
Wladimir Putin könnte mit einem militärischen Angriff auf die Ukraine viel mehr verlieren als gewinnen. Beobachter interpretieren den Aufmarsch an der Grenze in erster Linie als Drohkulisse an die Adresse des Nachbarn. Putin wolle eine «Rückeroberung» der Separatistengebiete verhindern, dank denen er ein «Standbein» in der Ukraine hat.
Es entspricht seinem Vorgehen in Georgien, wo sich zwei Regionen unter russischem Einfluss für «unabhängig» erklärt haben. Auf diese Weise kann er die Nato-Ambitionen in beiden Ländern zumindest in Schach halten. Trotzdem bleibt es ein Spiel mit dem Feuer, denn der russische Präsident befindet sich innenpolitisch zunehmend unter Druck.
Corona wütet in Russland besonders heftig. Mehr als 30’000 Neuinfektionen und 1000 Todesfälle pro Tag werden registriert, und das sind die offiziellen Zahlen. Gleichzeitig sind nur etwa 40 Prozent der Bevölkerung geimpft. «Die Pandemie schlägt Putin», schreibt der unabhängige russische Journalist Alexey Kovalev in der «New York Times».
Sie sei «sein bis heute vielleicht schlimmster Feind», meint Kovalev. Putin versuche, die Verantwortung auf Beamte und lokale Regierungen abzuwälzen, «um seine Beliebtheit zu schützen». Doch offensichtlich fühlt er sich in Bedrängnis. Dafür spricht auch sein rabiates Vorgehen gegen das, was von der Opposition in Russland übriggeblieben ist.
Bislang wusste Wladimir Putin, wie weit er mit Provokationen gehen konnte, ohne einen zu heftigen Backlash zu riskieren. Vielleicht gibt es auch jetzt eine Lösung, etwa indem der Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens auf die lange Bank geschoben wird. Aber es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Provokation ungewollt zu einer Eskalation führt.