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Selenskyj auf autoritärem Kurs – ein schlechtes Omen für die Ukraine

Ukraine's President Volodymyr Zelenskyy delivers a speech at the Council of Europe after signing the legal instruments necessary to launch the Special Tribunal for the Crime of Aggression against ...
In der Kritik: Der ukrainische Präsident begibt sich auf einen heiklen politischen Kurs.Bild: keystone
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Selenskyj auf autoritärem Kurs – das ist ein schlechtes Omen für die Ukraine

Der zunehmend umstrittene Regierungsstil des Präsidenten geht einher mit wachsender Bestechlichkeit. Nun will Wolodymyr Selenskyj auch die weitgehend unabhängigen Korruptionsbekämpfer an die Kandare nehmen.
24.07.2025, 07:2224.07.2025, 07:22
Kurt Pelda
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Verschämt steckt der Fahrer des Sammeltaxis ein paar Geldscheine in seinen Reisepass, wie ein Mitreisender nachträglich erzählt. Wir befinden uns an der ukrainischen Zollstation bei der Ausreise in ein Nachbarland. Der Beamte mit dem strengen Blick nimmt unsere Dokumente entgegen und bringt sie, ohne ein Wort zu sagen, in ein Büro.

Danach folgt eine höchst oberflächliche Kontrolle, wobei wir das Gepäck nicht einmal öffnen müssen. Wir werden nur gefragt, ob wir Waffen dabei haben. Als wir verneinen, dürfen wir weiterfahren – mit dem roten Ausreisestempel im Pass. Die Aktion ging in Rekordzeit über die Bühne.

Anfängliche Fortschritte unter Selenskyj

Es ist die alltägliche Bestechung in der Ukraine – «kleine Korruption» genannt. Die Käuflichkeit von Politikern und Beamten ist Teil des Systems und hat eine lange Tradition, die bis in die Sowjetzeit zurückreicht. Die wuchernde Bürokratie gibt den Beamten jenen Willkürspielraum, den sie brauchen, um Bürger und Unternehmer zu Bestechungsgeldern zu nötigen.

Ein weiteres Beispiel gefällig? Ein Autofahrer wird nachts von der Polizei kontrolliert. Er weigert sich, einen Alkoholtest zu machen. Eine Beamtin weist ihn deshalb darauf hin, dass sein Dossier nun dem zuständigen Gericht geschickt werde. Über eine Mittelsfrau besticht der alkoholisierte Fahrer am Tag danach einen Mitarbeiter des Gerichts, damit das Dossier vom Bürotisch des Richters verschwindet – für umgerechnet etwas mehr als 200 Franken. Das Bestechungsgeld wird auf verschiedene Beteiligte aufgeteilt.

Präsident Selenskyj hat vor seinem Amtsantritt 2019 versprochen, die Bestechlichkeit auf allen Staatsebenen entschieden zu bekämpfen. Zumindest zu Beginn hielt er Wort. Der Korruptionsindex von Transparency International stieg zwischen 2019 und 2023 beträchtlich, nämlich von 30 auf 36 Punkte – was mit einer Abnahme der Bestechlichkeit einhergeht (siehe Grafik). Damit stand und steht die Ukraine weit besser da als Russland. Zum Vergleich: Dänemark schnitt 2024 am besten ab, die Schweiz kam immerhin auf den fünften Platz, weit abgeschlagen folgten die Ukraine auf Rang 105 und Russland auf dem 154. Platz – von 180 Ländern.

Machtkonzentration beim Präsidialamt

Während Russland in Sachen Käuflichkeit der Politiker und Beamten während des Kriegs förmlich abstürzte, hielt sich die Ukraine anfänglich gut. Doch seit gut einem Jahr verschlechtert sich die Lage wieder, und zwar parallel zum zunehmend autoritären Kurs Selenskyjs und der Machtkonzentration in seinem Präsidialamt. Problematisch ist nicht nur die «kleine Korruption» – also die Bestechlichkeit von rangniedrigen Beamten –, sondern vor allem die «grosse Korruption» im staatlichen Beschaffungswesen, nicht zuletzt bei Aufträgen im Rüstungswesen.

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Ukrainerinnen und Ukrainer demonstrieren in Kiew gegen die Entmachtung der Korruptionsermittler.Bild: keystone

Wie das in der Regel funktioniert, zeigt folgendes fiktives Beispiel mit realem Hintergrund: Das Verteidigungsministerium will 50’000 Artilleriegranaten beschaffen und schreibt diesen Auftrag öffentlich aus. Auf wundersame Weise erhält die absolut unbekannte Firma A. den Zuschlag, obwohl sie nicht das beste Angebot eingereicht hat.

Der Hintergrund dieses obskuren Unternehmens, das wirtschaftlich gar nicht aktiv zu sein scheint und noch nie Granaten gekauft oder verkauft, geschweige denn produziert hat, bleibt unklar. Doch nach langen Recherchen finden ukrainische Journalisten heraus, dass ein entfernter Cousin des stellvertretenden Ministers B. dahintersteckt. Der Staat bezahlt die Granaten, erhält aber nie auch nur ein Stück davon. Das Geld verschwindet spurlos bei Firma A. Solche Beispiele sind in den Kriegsjahren häufig ans Licht gekommen.

Manchmal kümmert sich der Inlandgeheimdienst SBU um die Ermittlungen, manchmal der Generalstaatsanwalt. Beide Stellen sind vom Präsidenten abhängig. Seit Beginn der ersten russischen Invasion auf der Krim und im Donbass im Jahr 2014 haben die westlichen Alliierten die Ukraine deshalb zum Einsatz unabhängiger Ermittler gedrängt. So dürfen ukrainische Staatsbürger seit 2017 ohne Visum in den Schengen-Raum einreisen, auch weil es in Kiew seit 2015 die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (Sapo) gibt.

Wie reagiert die EU?

Schon 2014 wurde ausserdem das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) gegründet, eine bisher ebenfalls weitgehend unabhängige Behörde. Sie ermittelt in grossen Korruptionsfällen, kann aber selbst keine Anklage erheben. Die Idee hinter dem Nabu war es, zu verhindern, dass der Staatschef indirekt über das Vorgehen in Korruptionsverdachtsfällen entscheidet. Denn der Präsident ernennt den Generalstaatsanwalt. Dieser muss dann nur noch vom Parlament abgesegnet werden, in dem Selenskyjs Partei «Diener des Volkes» eine komfortable Mehrheit besitzt.

Und genau hier kommen die jüngsten Entwicklungen der Korruptionsbekämpfung ins Gehege. Das Parlament, das beim Volk einen schlechten Ruf hat, peitschte soeben ein Gesetz durch, das die Sapo und das Nabu unter die Aufsicht des Generalstaatsanwalts stellt. Für die Abgeordneten ist das quasi ein Freibrief, sich noch mehr als bisher an den Futtertrögen der Macht zu bedienen. Und Selenskyj machte mit, indem er das Gesetz sofort unterzeichnete – obwohl dies Retorsionsmassnahmen der EU nach sich ziehen könnte.

Selenskyj rechtfertigte seinen Schritt damit, dass es ihm darum gehe, russlandfreundliche Elemente in den unabhängigen Anti-Korruptionsbehörden auszumerzen. Zu diesem Zweck führte der Geheimdienst SBU eine Razzia beim Nabu durch. Hintergrund sind jedoch auch Ermittlungen der Korruptionsbekämpfer, die ins Zentrum der Macht, nämlich in die Umgebung und in den Beraterstab Selenskyjs führen. All dies ist ein schlechtes Omen für die Ukraine.

Ausländische Helfer, Geldgeber und Waffenlieferanten werden es sich zweimal überlegen, der bedrängten Ukraine unter die Arme zu greifen, wenn ein zunehmendes Risiko besteht, dass korrupte Regierungsmitglieder und Beamte sich an der Hilfe bereichern. (aargauerzeitung.ch)

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98 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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magicfriend
24.07.2025 07:42registriert Oktober 2014
Eine ehemalige Sowjetrepublik im Krieg. Vorher war die Bestechlichkeit und Korruption da und sie ist es natürlich auch heute noch. Der Krieg ändert daran nichts, er verschlimmert die Situation eher in vielen Teilbereichen noch. Dass ein Präsident im Krieg nicht auch noch die Korruption nachhaltig besiegen kann, war mir persönlich klar. Allen muss jedoch bewusst sein: Die Ukraine ist ein kleines Russland. Funktioniert und funktionierte sehr ähnlich wie der grosse östliche Nachbarstaat. Einfach mit dem Unterschied, dass sie angegriffen wurden. Besserung? Möglich, jedoch nach dem Krieg.
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Randnotiz
24.07.2025 08:57registriert Februar 2023
Die im Artikel angesprochene Problematik ist richtig und wichtig.

Mir fehlt noch der Aspekt der russischen Unterwanderung/Beeinflussung/Spionage.

Es ist ja wohl anzunehmen, dass der Kreml alles versucht um sich in ukrainischen Behörden in irgendeiner Form festzusetzen. Ist scheinbar ja auch schon gelungen und entdeckt worden.

Wenn sich jetzt Kremlnahe Personen in den Behörden zur Korruptionbekämpfung breitmachen, ist das doch ein Jackpot für Putin. Untersteht/Unterstand diese Behörde ja keiner Kontrollinstanz.

Hätte Selenski das Problem anders lösen können? Vermutlich ja. Es ist Komplex
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Xsa
24.07.2025 08:00registriert Oktober 2021
Die schwindende Korruption unter Selenskyj war mit ein Grund, weshalb Putin das Land angegriffen hat. Denn das sorgt auch für einen schwindenden Einfluss Moskaus. Die Ukraine hat sich immer mehr westlich orientiert - politisch und wirtschaftlich. Das gefällt Putin nicht. Es entschwindet seiner Kontrolle. Deshalb hat er den Krieg über die Ukraine gebracht, um die Kontrolle auf die eine oder andere Art wieder zu erlangen.
Hoffen wir dass seine Armee noch grosse Verluste einfährt, hoffen wir dass seine Wirtschaft kollabiert, dann, und NUR dann, wird es für ein paar Jahrzehnte wieder Frieden geben
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