Verschämt steckt der Fahrer des Sammeltaxis ein paar Geldscheine in seinen Reisepass, wie ein Mitreisender nachträglich erzählt. Wir befinden uns an der ukrainischen Zollstation bei der Ausreise in ein Nachbarland. Der Beamte mit dem strengen Blick nimmt unsere Dokumente entgegen und bringt sie, ohne ein Wort zu sagen, in ein Büro.
Danach folgt eine höchst oberflächliche Kontrolle, wobei wir das Gepäck nicht einmal öffnen müssen. Wir werden nur gefragt, ob wir Waffen dabei haben. Als wir verneinen, dürfen wir weiterfahren – mit dem roten Ausreisestempel im Pass. Die Aktion ging in Rekordzeit über die Bühne.
Es ist die alltägliche Bestechung in der Ukraine – «kleine Korruption» genannt. Die Käuflichkeit von Politikern und Beamten ist Teil des Systems und hat eine lange Tradition, die bis in die Sowjetzeit zurückreicht. Die wuchernde Bürokratie gibt den Beamten jenen Willkürspielraum, den sie brauchen, um Bürger und Unternehmer zu Bestechungsgeldern zu nötigen.
Ein weiteres Beispiel gefällig? Ein Autofahrer wird nachts von der Polizei kontrolliert. Er weigert sich, einen Alkoholtest zu machen. Eine Beamtin weist ihn deshalb darauf hin, dass sein Dossier nun dem zuständigen Gericht geschickt werde. Über eine Mittelsfrau besticht der alkoholisierte Fahrer am Tag danach einen Mitarbeiter des Gerichts, damit das Dossier vom Bürotisch des Richters verschwindet – für umgerechnet etwas mehr als 200 Franken. Das Bestechungsgeld wird auf verschiedene Beteiligte aufgeteilt.
Präsident Selenskyj hat vor seinem Amtsantritt 2019 versprochen, die Bestechlichkeit auf allen Staatsebenen entschieden zu bekämpfen. Zumindest zu Beginn hielt er Wort. Der Korruptionsindex von Transparency International stieg zwischen 2019 und 2023 beträchtlich, nämlich von 30 auf 36 Punkte – was mit einer Abnahme der Bestechlichkeit einhergeht (siehe Grafik). Damit stand und steht die Ukraine weit besser da als Russland. Zum Vergleich: Dänemark schnitt 2024 am besten ab, die Schweiz kam immerhin auf den fünften Platz, weit abgeschlagen folgten die Ukraine auf Rang 105 und Russland auf dem 154. Platz – von 180 Ländern.
Während Russland in Sachen Käuflichkeit der Politiker und Beamten während des Kriegs förmlich abstürzte, hielt sich die Ukraine anfänglich gut. Doch seit gut einem Jahr verschlechtert sich die Lage wieder, und zwar parallel zum zunehmend autoritären Kurs Selenskyjs und der Machtkonzentration in seinem Präsidialamt. Problematisch ist nicht nur die «kleine Korruption» – also die Bestechlichkeit von rangniedrigen Beamten –, sondern vor allem die «grosse Korruption» im staatlichen Beschaffungswesen, nicht zuletzt bei Aufträgen im Rüstungswesen.
Wie das in der Regel funktioniert, zeigt folgendes fiktives Beispiel mit realem Hintergrund: Das Verteidigungsministerium will 50’000 Artilleriegranaten beschaffen und schreibt diesen Auftrag öffentlich aus. Auf wundersame Weise erhält die absolut unbekannte Firma A. den Zuschlag, obwohl sie nicht das beste Angebot eingereicht hat.
Der Hintergrund dieses obskuren Unternehmens, das wirtschaftlich gar nicht aktiv zu sein scheint und noch nie Granaten gekauft oder verkauft, geschweige denn produziert hat, bleibt unklar. Doch nach langen Recherchen finden ukrainische Journalisten heraus, dass ein entfernter Cousin des stellvertretenden Ministers B. dahintersteckt. Der Staat bezahlt die Granaten, erhält aber nie auch nur ein Stück davon. Das Geld verschwindet spurlos bei Firma A. Solche Beispiele sind in den Kriegsjahren häufig ans Licht gekommen.
Manchmal kümmert sich der Inlandgeheimdienst SBU um die Ermittlungen, manchmal der Generalstaatsanwalt. Beide Stellen sind vom Präsidenten abhängig. Seit Beginn der ersten russischen Invasion auf der Krim und im Donbass im Jahr 2014 haben die westlichen Alliierten die Ukraine deshalb zum Einsatz unabhängiger Ermittler gedrängt. So dürfen ukrainische Staatsbürger seit 2017 ohne Visum in den Schengen-Raum einreisen, auch weil es in Kiew seit 2015 die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (Sapo) gibt.
Schon 2014 wurde ausserdem das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) gegründet, eine bisher ebenfalls weitgehend unabhängige Behörde. Sie ermittelt in grossen Korruptionsfällen, kann aber selbst keine Anklage erheben. Die Idee hinter dem Nabu war es, zu verhindern, dass der Staatschef indirekt über das Vorgehen in Korruptionsverdachtsfällen entscheidet. Denn der Präsident ernennt den Generalstaatsanwalt. Dieser muss dann nur noch vom Parlament abgesegnet werden, in dem Selenskyjs Partei «Diener des Volkes» eine komfortable Mehrheit besitzt.
Und genau hier kommen die jüngsten Entwicklungen der Korruptionsbekämpfung ins Gehege. Das Parlament, das beim Volk einen schlechten Ruf hat, peitschte soeben ein Gesetz durch, das die Sapo und das Nabu unter die Aufsicht des Generalstaatsanwalts stellt. Für die Abgeordneten ist das quasi ein Freibrief, sich noch mehr als bisher an den Futtertrögen der Macht zu bedienen. Und Selenskyj machte mit, indem er das Gesetz sofort unterzeichnete – obwohl dies Retorsionsmassnahmen der EU nach sich ziehen könnte.
Selenskyj rechtfertigte seinen Schritt damit, dass es ihm darum gehe, russlandfreundliche Elemente in den unabhängigen Anti-Korruptionsbehörden auszumerzen. Zu diesem Zweck führte der Geheimdienst SBU eine Razzia beim Nabu durch. Hintergrund sind jedoch auch Ermittlungen der Korruptionsbekämpfer, die ins Zentrum der Macht, nämlich in die Umgebung und in den Beraterstab Selenskyjs führen. All dies ist ein schlechtes Omen für die Ukraine.
Ausländische Helfer, Geldgeber und Waffenlieferanten werden es sich zweimal überlegen, der bedrängten Ukraine unter die Arme zu greifen, wenn ein zunehmendes Risiko besteht, dass korrupte Regierungsmitglieder und Beamte sich an der Hilfe bereichern. (aargauerzeitung.ch)
Mir fehlt noch der Aspekt der russischen Unterwanderung/Beeinflussung/Spionage.
Es ist ja wohl anzunehmen, dass der Kreml alles versucht um sich in ukrainischen Behörden in irgendeiner Form festzusetzen. Ist scheinbar ja auch schon gelungen und entdeckt worden.
Wenn sich jetzt Kremlnahe Personen in den Behörden zur Korruptionbekämpfung breitmachen, ist das doch ein Jackpot für Putin. Untersteht/Unterstand diese Behörde ja keiner Kontrollinstanz.
Hätte Selenski das Problem anders lösen können? Vermutlich ja. Es ist Komplex
Hoffen wir dass seine Armee noch grosse Verluste einfährt, hoffen wir dass seine Wirtschaft kollabiert, dann, und NUR dann, wird es für ein paar Jahrzehnte wieder Frieden geben