In Davos stand Javier Milei auf seiner bisher grössten Bühne – und Argentiniens neuer Präsident nutzte sie. «Die westliche Welt ist in Gefahr», rief er mahnend auf dem Weltwirtschaftsforum in der Schweiz.
Der selbsterklärte «Anarchokapitalist» warnte vor politischen Ideen, «die unweigerlich zum Sozialismus und damit zur Armut führen». Ausserdem kritisierte Milei den angeblich «radikalen Feminismus» und «soziale Gerechtigkeit». Seine Rede gipfelte in zwei Ausrufen: «Der Staat ist nicht die Lösung. Der Staat ist das Problem.» Und: «Es lebe die Freiheit, verdammt noch mal!»
Diese Worte lassen aufhorchen – vor allem im Westen, wo angesichts globaler Krisen die Zusammenarbeit mit vielen Staaten Lateinamerikas auf der Kippe steht. Denn mit Milei sitzt zwar ein pro-westlicher Politiker in der Casa Rosada, dem argentinischen Präsidentenpalast. Doch Milei schickt sich an, eine autoritäre Regierung zu errichten. Eine Zusammenarbeit mit einem solchen Politiker erfordert im Westen Fingerspitzengefühl. Das hatte bereits Jair Bolsonaros Präsidentschaft in Brasilien gezeigt, der mit ähnlichen Mitteln regierte.
Viele Argentinierinnen und Argentinier sehen mittlerweile nicht das grösste Problem in ihrem Staat, sondern in ihrem neuen Staatsoberhaupt. Am Mittwoch riefen die grössten Gewerkschaften des Landes zum Generalstreik auf. Es sind nicht die ersten Proteste gegen den Präsidenten.
Zuletzt waren die Gewerkschaften 2019 gegen den damaligen Präsidenten Mauricio Macri auf die Strasse gegangen. Ende desselben Jahres wurde dieser abgewählt. Könnte Milei dasselbe Schicksal blühen?
Dass sich nun die mächtigen Gewerkschaften einschalten, zeigt, dass Mileis Regierung ins Schwimmen kommt, seine Kettensäge ins Stottern gerät. Der neue Präsident hatte bereits im Wahlkampf mehrfach eine Kettensäge dabei, mit der er den argentinischen Staat und die politische «Kaste», wie er etablierte Politiker nennt, symbolisch zurechtstutzen wollte.
Die Auftritte verfingen: In der zweiten Wahlrunde im November fuhr er mit gut 56 Prozent der Stimmen einen deutlichen Erfolg ein. Und einmal im Präsidentenamt angekommen, zeigte er, dass die Kettensäge nicht nur ein Symbol war.
In den bisher nur 50 Tagen im Amt machte der Präsident schnell Nägel mit Köpfen: Milei stampfte die Hälfte der zuvor 18 Ministerien ein und will Dutzende Staatsunternehmen privatisieren. Per Dekret beschloss er mehr als 300 Gesetzesänderungen auf einen Schlag. Und dann brachte er noch das sogenannte «Omnibus-Gesetz» ein. Der Name lässt erahnen, dass es sich um ein riesiges Gesetzespaket handelt.
Damit will der Populist auf einen Schlag Hunderte weitere Gesetze streichen oder modifizieren. Ausserdem soll der Kongress einen «öffentlichen Notstand» ausrufen, der das Parlament für mindestens ein Jahr – eine Verlängerung ist möglich – entmachten würde. Der Präsident könnte während des Notstands allein regieren.
In das «Omnibus-Gesetz» fällt auch das Versammlungsrecht, das der Präsident stark beschneiden will. Die Polizei soll Proteste leichter unterbinden können. «Versammlungen» von drei oder mehr Personen gelten demnach als Demonstration. Es ist eine Schocktherapie für Argentinien. Unter Milei könnte das Land wie bereits vor gut 50 Jahren wieder zu einer Diktatur werden.
Schon vor seinem Amtsantritt war Milei eine Persönlichkeit, die polarisierte: Grosse Teile der Bevölkerung sahen in ihm den Mann, der die jahrzehntelange Misswirtschaft sozialistisch geprägter Regierungen beenden sollte. Seine Gegner hingegen warnten vor seinen radikalen Reformplänen und gesellschaftspolitischen Positionen.
Der neue Präsident leugnet den Klimawandel, will Schwangerschaftsabbrüche verbieten und den Handel mit Organen legalisieren. Zudem verharmloste Milei wiederholt die argentinische Militärdiktatur der 1970er- und -80er-Jahre, der Zehntausende zum Opfer fielen.
Für viele Argentinierinnen und Argentinier war das geplante «Omnibus-Gesetz» der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Am Mittwoch riefen die grössten Gewerkschaften des Landes zum Generalstreik auf. Bis zu 600'000 Menschen gingen allein in der Hauptstadt Buenos Aires auf die Strasse. Im ganzen Land sollen rund 1.5 Millionen Menschen an den Protesten teilgenommen haben. In einer Nation mit rund 46 Millionen Menschen ist das ein bedeutender Teil der Bevölkerung.
Milei aber diskreditierte den Streik schon vor Beginn: «Es ist klar, dass es sich um einen Streik mit politischen Eigenschaften handelt», sagte der Präsident im Interview mit der Journalistin Patricia Janiot. «Und es hat nichts mit legitimen Forderungen zu tun, die Arbeiter haben könnten.»
Den Argentiniern stehe ein «sehr hartes» Jahr 2024 bevor, sagte der Präsident ausserdem in seiner Ansprache zum Jahreswechsel. Er stellte die Bevölkerung und das Parlament vor die Wahl: Entweder lehne man seine Reformen ab und setze so das «Modell, das uns über 100 Jahre hinweg verarmte», fort. Oder man verabschiede sie, «um einen tiefen Wandel zu bewirken und erneut die Ideen der Freiheit zu umarmen».
Dabei basiert seine Macht vor allem auf dem Präsidentenamt, denn eine Mehrheit im Kongress hat Mileis Partei La Libertad Avanza (zu Deutsch: Die Freiheit schreitet voran, Anm. d. Red.) nicht. Deswegen versucht der Präsident per Dekret zu regieren. Deswegen will Milei den Kongress mit der Arbeit an Hunderten Gesetzesänderungen lahmlegen und demokratische Prozesse umgehen. Denn solange nicht beide Kammern des Kongresses Mileis umfassendes 300-Gesetze-Dekret zumindest in Teilen zurückweisen, bleibt es in Kraft.
Milei ist also auf die Zustimmung des Kongresses angewiesen und steht deshalb vor einem Dilemma. Sein Kampf gegen die politische «Kaste» brachte ihn ins Präsidentenamt. Als Staatsoberhaupt aber muss er sich auch mit etablierten Parteien arrangieren, die Sitze im Kongress haben.
Um zumindest einen Hauch an Zustimmung im Kongress zu gewinnen, liess Milei das «Omnibus-Gesetz» schrumpfen: Mehr als 140 Gesetzesartikel der ursprünglichen Fassung wurden gestrichen – mehr als 500 blieben übrig. Dazu strich er zuletzt sogar zentrale Wirtschaftsreformen, die er sich auf die Fahnen geschrieben hatte. Kompromissbereitschaft beweist das jedoch nicht. Denn die Entmachtung des Kongresses steht weiter in dem Gesetzesvorhaben. Milei will um jeden Preis die ganze Macht für sich.
Bereits zuvor hatten Gerichte Teile von Mileis Arbeitsmarktreformen kassiert, die er mit seinem Mega-Dekret umsetzen wollte. Erste Erfolge für die Abgeordneten und den Rechtsstaat.
Es ist aber nicht das Ende der Konfrontation, denn Milei ist auf den Streit angewiesen, analysiert der argentinische Historiker Carlos Pagni in der Tageszeitung «La Nación»: «Für Milei bedeutet regieren weder erziehen noch erklären. Regieren bedeutet, Wahlkampf zu machen.» Deswegen befinde sich Milei in einem Teufelskreis, so Pagni. Er müsse dauerhaft Wahlkampf machen, um die Mehrheit der Bevölkerung auf seiner Seite zu halten.
Und so passt es auch, dass er nun den Regierungen der Provinzen Druck macht. Sollten sie im Kongress nicht dem «Omnibus-Gesetz» zustimmen, könnte Milei ihnen den Geldhahn zudrehen. Ausserdem will der neue Präsident eine Sonderstaatsanwaltschaft gründen, die sich ausschliesslich möglichen Verfehlungen öffentlicher Amtsträger widmen soll, berichtet «La Nación». Eine unverhohlene Drohung an die politische «Kaste».
Bisher profitiert er noch von diesem Politikstil: In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Analogías steht Milei noch bei einer Zustimmung von 49.4 Prozent. 44.8 Prozent lehnen den Präsidenten jedoch ab. Die Umfrage wurde eine Woche vor dem Generalstreik durchgeführt. Nun kommt es darauf an, ob auch Mileis Reformvorhaben fruchten.
Denn Argentinien steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Inflationsrate liegt bei über 200 Prozent, rund 40 Prozent der Menschen in dem einst reichen Land leben unterhalb der Armutsgrenze. Schuld daran ist ein aufgeblasener und teurer Staatsapparat, dem Milei den Kampf angesagt hat.
Seine Präsidentschaft ändert daran aber zunächst nichts: Allein im ersten Monat wuchs die Inflationsrate um 25.5 Prozent. Vor allem die Kosten für Gesundheit, Transport und Lebensmittel zogen kräftig an. Damit ging in Argentinien das Jahr 2023 mit der höchsten Teuerungsrate seit der Hyperinflation von 1990 zu Ende.
Auch aussenpolitisch setzt Milei auf eine radikale Kehrtwende. Sein Vorgänger Alberto Fernández wollte sein Land noch in das Brics-Staatenbündnis aufnehmen lassen. Der Allianz gehören auch Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und neuerdings Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate an. Milei erteilte diesem Plan eine Absage. Ausserdem versprach er im Wahlkampf, die Beziehungen zu Russland und China einzustellen.
Damit ist er einer der wenigen pro-westlich eingestellten Präsidenten des Kontinents. Besonders die anderen grossen Volkswirtschaften Lateinamerikas – Brasilien, Chile, Kolumbien und Mexiko – üben angesichts von Kriegen in der Ukraine und Israel lautstarke Kritik am Westen und kokettieren teilweise mit den autoritären Regimen in Moskau und Peking.
Für die westlichen Staaten bleibt die Lateinamerika-Politik deshalb ein Drahtseilakt. Einerseits möchte man die letzten Funken von Kooperation mit den kritisch eingestellten Nationen nicht verlieren. Gleichzeitig fällt es dem Westen schwer zu akzeptieren, dass ein Partner wie Argentinien autoritär regiert wird – auch wenn man mit Milei aussenpolitisch in zentralen Fragen auf einer Linie ist.
Deshalb sollte man im Westen genau hinhören und hinschauen, was in Argentinien passiert. Mileis Rhetorik und die avisierten Massnahmen seiner Regierung lassen Böses erahnen. Ob er damit durchkommt, darüber entscheiden jedoch zunächst die Argentinierinnen und Argentinier.
Und dann will er alles mögliche verbieten🤔