Im Herbst 2020 stand Swetlana Tichanowskaja kurz davor, das Unmögliche zu schaffen. Sie, die Hausfrau und Mutter, trat gegen den eigentlich unantastbaren Diktator Alexander Lukaschenko bei der weissrussischen Präsidentschaftswahl an – und gewann haushoch.
Stürzen konnte sie den Herrscher in Minsk dennoch nicht. Lukaschenko hielt sich mit der Hilfe von Wladimir Putin an der Macht. Tichanowskaja dagegen musste aus dem Land fliehen.
Nach der gestohlenen Wahl gingen Zehntausende in Minsk und anderen Städten auf die Strasse. Auffällig: Den schwer bewaffneten Sondereinheiten der Polizei stellten sich an vorderster Front ganz in Weiss gekleidete Frauen entgegen. Mit Blumen in der Hand gegen die Schlagstöcke der Polizei.
Seither ist die vierzigjährige ausgebildete Englischlehrerin aus der Kleinstadt Mikaschewitschy ganz im Süden Weissrusslands das Gesicht des Widerstands gegen Diktator Lukaschenko. Aus dem Exil kämpft sie weiter gegen das Regime in Minsk.
Die Konsequenz folgte an diesem Montag: Ein Gericht in der weissrussischen Hauptstadt verurteilte Tichanowskaja, die heute in Litauen lebt, wegen Hochverrats zu fünfzehn Jahren Haft. Den Prozess nannte Tichanowskaja die «Rache des Diktators».
Tichanowskaja trat vor drei Jahren nur an, weil ihr Ehemann, der Präsidentschaftskandidat Sergej Tichanowski, vor der Wahl ins Straflager gesteckt wurde. Er habe Massenunruhen in Weissrussland organisiert und über seine Kanäle auf Youtube und Telegram «zur sozialen Feindschaft» aufgestachelt.
Swetlana nahm seinen Platz auf der politischen Bühne ein. Nun droht ihr ein ähnliches Schicksal wie ihrem Ehemann, sollte sie wieder einen Fuss auf den Boden ihres Heimatlandes setzen.
Kurz vor der Verkündung des Urteils traf unser Korrespondent Tichanowskaja in Wien. Fast schon prophetisch äusserte sie sich im Gespräch zu Lukaschenkos Repressionsapparat: «Wir leben derzeit in einem Gulag», sagte sie. Weissrussland sei ein Gefangenenlager. «Wenn man auf die Strasse geht, wird man für zwei, zehn oder fünfzehn Jahre Haft verurteilt.»
Lukaschenko ist Putins engster Verbündeter in dessen Krieg gegen die Ukraine. Von weissrussischem Boden aus marschierte Russlands Armee zu Beginn des Krieges in Richtung Kiew.
Innerhalb der weissrussischen Bevölkerung sind die Sympathien indes anders verteilt: «Unsere Partisanen haben die Eisenbahninfrastruktur in Belarus sabotiert und russische Militärtransporte gestoppt. Unsere Leute spenden an die ukrainische Armee. Und wenn man das in Belarus tut und erwischt wird – oder dabei, ukrainische Lieder zu singen, geht man auch für Jahre ins Gefängnis», sagt Tichanowskaja. «Wir bekämpfen denselben Feind.»
Putin und Lukaschenko, sagt Tichanowskaja aber auch, «das sind keine Freunde. Das ist eine Symbiose. Sie haben beide keine andere Wahl. Putin braucht Lukaschenko. Und für Lukaschenko ist Putin der einzige Alliierte. Sie müssen kooperieren – auch wenn sie einander vielleicht lieber beissen würden.»
Die Armee losschicken werde Lukaschenko nicht. Da ist sich Tichanowskaja sicher. Das wisse auch Putin. Denn die überwiegende Mehrheit der Menschen in Weissrussland sei gegen diesen Krieg. Und die Armee wolle nicht kämpfen. Das Regime und die Menschen, das seien zwei verschiedene Dinge.
Gegen dieses Regime will Tichanowskaja weiterkämpfen. Das machte sie direkt nach der Verkündung des Urteils gegen sie auf Twitter klar. Sie denke an die Tausenden, die unschuldig im Gefängnis sitzen, schrieb sie. «Ich werde nicht aufhören, ehe jeder Einzelne von ihnen freigelassen worden ist.» (aargauerzeitung.ch)
Ich wünsche ihr auf jeden Fall alle Kraft der Welt, dass sie ihr Vorhaben eines Tages vollständig verwirklichen kann.