Am Sonntag (Ortszeit) stürmten tausende Bolsonaro-Anhänger das Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasília. Dort drangen sie in den Nationalkongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz ein.
Ein Akt, der schwer an den Kapitol-Sturm vom 6. Januar 2021 erinnert. Damals waren es Trump-Anhänger, die den US-Kongress in Washington stürmten. Sie verschafften sich Zugang zu Büros und Sälen, wo sie triumphierend in den Stühlen Platz nahmen und randalierten. Die Bilder gingen um die Welt.
In beiden Fällen klagten die beiden ehemaligen Präsidenten im Vorfeld über Wahlbetrug. Trump wird unter anderem deshalb vorgeworfen, für den Kapitolsturm mitverantwortlich gewesen zu sein. Um diesem Vorwurf nachzugehen, hat ein Sondergremium des US-Kongresses während Monaten Zeuginnen und Zeugen interviewt und Daten analysiert. Die Untersuchung gipfelte schliesslich in der Empfehlung an das Justizministerium: Trump sollte angeklagt werden.
Wie sieht es im Fall von Brasilien aus? Wie sehr ist Jair Bolsonaro an den Ausschreitungen mitverantwortlich? Wie reagiert er auf die Geschehnisse?
Bolsonaro verurteilte den Angriff seiner radikalen Anhänger auf das Regierungsviertel. «Friedliche Demonstrationen sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben, fallen jedoch nicht darunter», schrieb der rechte Ex-Staatschef auf Twitter. Und weiter:
Lula warf Bolsonaro vor, seine Anhänger aufgestachelt zu haben. «Sie nutzten die sonntägliche Stille, als wir noch dabei waren, die Regierung zu bilden, um zu tun, was sie taten. Es gibt mehrere Reden des ehemaligen Präsidenten, in denen er dies befürwortet. Dies liegt auch in seiner Verantwortung und in der Verantwortung der Parteien, die ihn unterstützt haben», sagte Lula.
Bolsonaro verbat sich die Anschuldigungen und schrieb:
Nun, die «New York Times» hat hierfür bereits im vergangenen Oktober hilfreiche Arbeit geleistet. Ein Team hat unzählige Stunden Videomaterial aus Ansprachen, Interviews und Livestreams des Ex-Präsidenten analysiert. Sie wollten dabei herausfinden, wie Bolsonaro den Mythos der gestohlenen Wahlen in Brasilien aufbaute. Dieser ist nämlich äusserst erfolgreich: Eine Umfrage im Oktober hat ergeben, dass drei von vier Bolsonaro-Anhängern kein oder nur wenig Vertrauen in die brasilianischen Wahlmaschinen haben.
Dies, obwohl Bolsonaro vor den Präsidentschaftswahlen 2022 während dreissig Jahren keine einzige Wahlniederlage einstecken musste. Trotzdem kritisierte er das Wahlsystem schon lange bevor er zum Präsidenten gewählt (und abgewählt) wurde. Eine Chronologie seiner Behauptungen.
1996 wurde in Brasilien die Papierwahl abgeschafft und ein weltweit einzigartiges Wahlsystem eingeführt: Seither wird mittels Wahlmaschinen nur noch komplett elektronisch abgestimmt. Wahlblätter gibt es nicht mehr. Die Maschinen trugen massgeblich dazu bei, Wahlbetrug zu beseitigen, der zu Zeiten der Papierwahlen noch ein Problem war.
Bolsonaro will davon nichts wissen. Im Gegenteil. Er hebt die digitale Stimmenerfassung als Schwäche hervor. Man könne sich nie sicher sein, dass die Stimmzettel korrekt gezählt würden, klagt er.
Erstmals öffentlich Kritik äusserte er 2014, als er noch Kongressabgeordneter war. Auslöser dafür war die knappe Niederlage des Mitte-Rechts-Kandidaten Aécio Neves in den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2014. Neves hatte die Niederlage gegen Dilma Rousseff angefochten und eine Überprüfung angefordert. Diese fand statt, resultierte aber in keinerlei Hinweisen auf Betrug.
Bolsonaro schwor sich, das ausschliesslich elektronische Wahlsystem abzuschaffen. Zunächst schien er mit seinem Vorhaben Erfolg zu haben: Der Kongress verabschiedete 2015 eine Massnahme, welche eine Sicherungskopie auf Papier vorschrieb. Diese scheiterte allerdings am Obersten Gerichtshof, der gegen die Änderung das Veto einlegte. Den Entscheid begründete er damit, dass das Recht auf Geheimhaltung der Stimme verletzt würde.
Bolsonaro bezichtigte die Richter deshalb, den Linken zu manipulierten Wahlsiegen zu verhelfen.
Auch vor den Präsidentschaftswahlen 2018, für die er kandidierte, prangerte er das «unsichere» Wahlsystem an:
Bolsonaro gewann die Wahl. Und zweifelte das Resultat dennoch an. Grund: Er hat die Wahl nicht direkt in der ersten Runde gewonnen, sondern musste noch in die Stichwahl. Hätten die Linken nicht Stimmen gestohlen, wäre keine Stichwahl nötig gewesen, schimpfte er. Stichhaltige Beweise für seine Behauptungen legte er nie vor. Seine Vorwürfe wurden dennoch untersucht – und widerlegt. Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie in der akademischen Zeitschrift «Forensic Science International» kam zum Schluss:
Bolsonaro interessieren solche Studien nicht. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im Oktober 2022 nahm seine Kritik an den Wahlmaschinen wieder mehr an Fahrt auf. Angefeuert wurde er wohl durch die Umfragen, laut denen er hinter Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva zurücklag. Er beklagte sich, dass er die Wahlen höchstwahrscheinlich wegen Wahlbetrugs verlieren werde.
Im Juni 2022 erhielten seine Behauptungen plötzlich auch Unterstützung vom Militär. Sie hätten im Wahlsystem einige Schwachstellen festgestellt, so die brasilianischen Streitkräfte. Sie schlugen einige kleinere Änderungen vor, welche von der Wahlbehörde umgesetzt wurden. Sicher fühlte sich Bolsonaro trotzdem noch nicht.
Noch im selben Monat drohte er, das Resultat anzufechten, sollte er die Wahl verlieren. So sagte er während einer Rede:
Angesichts solcher Aussagen schrillten nicht nur bei der Opposition, sondern auch bei Experten und Richtern alle Alarmglocken. Edson Fachin, Brasiliens oberster Wahlleiter und Richter am Obersten Gericht, bezeichnete Bolsonaros Aussagen als brandgefährlich:
Genau dieses Argument nutzte allerdings auch Bolsonaro für sich. Für ihn war völlig klar, dass die Mehrheit Brasiliens ihn zum Präsidenten wählen würde. In einem Interview mit «SBT News» hielt er überzeugt fest:
Am 2. Oktober kam der Tag der Entscheidung: Bolsonaro erreichte 43 Prozent der Stimmen. Er holte sich damit viel mehr Stimmen, als die vorherigen Umfragen hätten vermuten lassen. Aber es handelte sich eben nicht um die wie von ihm prophezeiten 60 Prozent. Auch wenn er es mit 43 Prozent in die Stichwahl schaffte, für ihn stand fest: Es muss sich um Wahlbetrug gehandelt haben. Diese Meinung sah er natürlich bestätigt, als er die Stichwahl am 30. Oktober hauchdünn mit 49,10 Prozent der Stimmen gegen Lula da Silva verlor.
Er weigerte sich, die Niederlage anzuerkennen, und hüllte sich im Anschluss an die Wahl während zweier Tage in Schweigen. Derweil gingen seine Anhängerschaft im ganzen Land auf die Strasse, um gegen das Resultat zu protestieren.
Am 1. November äusserte er sich schliesslich und kündigte an, dass der Prozess des Machtübergangs beginnen werde. Drei Wochen später legte er beim obersten Wahlgericht Beschwerde gegen das Wahlergebnis ein. Erfolglos: Das oberste Wahlgericht lehnte den Antrag auf die Überprüfung des Wahlergebnisses noch im selben Monat ab.
Seither blockierten seine Anhänger immer wieder Landstrassen, kampierten vor Kasernen und forderten eine Militärintervention zugunsten des abgewählten Staatschefs.
Dass seine Anhänger am Sonntag nun das Regierungsviertel stürmten, schockierte angesichts der Vorgeschichte mehr, als dass es überraschte. Ein letztes klares Zeichen als Präsident setzte er, als er das Land zwei Tage vor Amtsende verliess und in die USA flog. Damit war er zum Amtsantritt des neuen Präsidenten Lula entgegen den Gepflogenheiten nicht anwesend. Seine Abneigung gegenüber dem Wahlsystem und der linken Politik hätte er kaum deutlicher machen können – das alles ist seiner Anhängerschaft natürlich nicht entgangen.
Die Leere, die er mit seiner Abwesenheit in Brasilien kreiert, füllen seine Anhänger mit Protest, Lärm und Anschuldigen. Er braucht in Florida, wo er sich jetzt aufhält, gar nicht mehr viel zu sagen. Auch wenn er nicht unmittelbar in die Geschehnisse vom Sonntag verwickelt sein mag: Seine Anhängerschaft wiederholt die Behauptungen, die er schon seit 2014 kontinuierlich vorgetragen hat.