Die Anhänger des am 30. Oktober vergangenen Jahres abgewählten Jair Bolsonaro drangen am Sonntag in den Kongress, später auch in den Obersten Gerichtshof (siehe unten) und den Regierungssitz Palácio do Planalto ein.
Die wenigen Sicherheitskräfte rund um das Kongressgelände versuchten den Mob zwar mit Pfefferspray, Tränengas- und Blendgranaten am Eindringen zu hindern, waren ob der schieren Masse der Menschen aber letztendlich machtlos. Auch ist fraglich, wie gross der Wille der Beamten tatsächlich war, den Mob aufzuhalten. Der frühere Staatschef Bolsonaro hat in der Polizei noch immer viele Sympathisanten. Ein Teil der Beamten schien sich eher halbherzig oder gar nicht den Aufständischen entgegenzustellen.
Nach mehreren Stunden brachten Sicherheitskräfte mit angerückter Verstärkung die Lage laut Medienberichten wieder unter Kontrolle. Spezialkräften der Militärpolizei und der Präsidentengarde gelang es, die besetzten Gebäude zu räumen, wie die staatliche Agência Brasil berichtete. Die Demonstranten sammelten sich daraufhin auf Parkplätzen und dem Rasen vor dem Nationalkongress. Dort wurden Hunderte Verdächtige festgenommen (siehe unten).
Die Demonstrierenden agierten zumindest teilweise gewalttätig und begingen zahlreiche Sachbeschädigungen. Sie schlugen die Scheiben des Kongressgebäudes ein, warfen Sicherheitsabsperrungen um und drangen in die Eingangshalle vor.
Auf Videos war zu sehen, wie Menschen im Plenarsaal des Senats auf Tische und Bänke kletterten und den Rednerpult als Rutschbahn missbrauchten. Diese Bilder hatten verblüffende Ähnlichkeiten mit jenen aus den USA beim Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol in Washington, D.C., am 6. Januar 2021.
Thousands of supporters of Brazil’s right-wing former president, Jair Bolsonaro, stormed the country’s Congress, Supreme Court and presidential offices on Sunday to protest what they falsely claim was a stolen election. https://t.co/bOwVVUoLHw pic.twitter.com/yiqLNtYQio
— The New York Times (@nytimes) January 9, 2023
Zuvor waren bereits Hunderte Demonstranten auf das Gelände des Parlaments vorgedrungen und auf das Dach des Gebäudes gelangt. Nach dem Angriff auf den Kongress zogen die Bolsonaro-Anhänger dann weiter zum Obersten Gerichtshof. Auch dort wurden Scheiben eingeworfen und die Aufständischen drangen in die Lobby des Justizzentrums vor, wie das Nachrichtenportal G1 berichtete.
Die Richter werden von den Hardcore-Anhängern von Bolsonaro besonders verachtet. Sie hatten den rechten Staatschef während seiner Amtszeit immer wieder in die Schranken gewiesen. Zuletzt erklärte das oberste brasilianische Gericht, dass es keine Anzeichen für den von Bolsonaro postulierten Wahlbetrug bei den Abstimmungen im Oktober gab. Ein Angreifer nahm aus Rache oder Protest sogar die Bürotür des besonders verhassten Bundesrichters Alexandre de Moraes als Trophäe mit.
Nach dem Sturm auf das Gerichtsgebäude zog die Menge nochmals weiter zum Regierungssitz Palácio do Planalto. Dort kam es erneut zu zahlreichen Sachbeschädigungen. Scheiben und Glastische wurden eingeschlagen, Bilder zerstört. Männer und Frauen liefen mit Brasilienflaggen durch Flure und Büros und filmten die Ausschreitungen.
Live from the Panalto Palace 🇧🇷: Bolsonaristas smash, destroy, and ransack the inside of the same building where Lula was inaugurated last week. Once again, police presence is nowhere in sight. pic.twitter.com/vcDwpLCZUS
— David Adler (@davidrkadler) January 8, 2023
Nachdem die angerückten Sicherheitskräfte die Lage einigermassen unter Kontrolle brachten und die Bolsonaro-Anhänger aus den Regierungsgebäuden getrieben wurden, sammelten sich diese auf den Rasenflächen und auf Parkplätzen vor den Gebäuden. Dort wurden in der Folge über 200 Personen verhaftet (Stand Montag, 3 Uhr, Schweizer Zeit).
Auf Bildern war zu sehen, wie Polizisten mehrere Männer und Frauen mit auf den Rücken gefesselten Händen aus dem Kongress führten. Die Militärpolizei setzte gepanzerte Fahrzeuge ein, über dem Regierungsviertel kreisten Hubschrauber. Im Fernsehen war zu sehen, wie Bolsonaro-Anhänger einen berittenen Polizisten von seinem Pferd zogen und auf ihn einschlugen.
Gerade zu Beginn der Krawalle gab die Polizei keine gute Figur ab. Schon seit Tagen kampierten zahlreiche Bolsonaro-Anhänger vor dem Hauptquartier der Streitkräfte. Als am Samstag und Sonntag rund 4000 weitere Unterstützer des Ex-Präsidenten in Bussen in der Hauptstadt eintrafen und zum Regierungsviertel zogen, wurden sie sogar von Beamten eskortiert. Polizisten machten Selfies mit den Demonstranten und drehten Handy-Videos.
Die Sicherheitskräfte suchten, nachdem die Lage sich beruhigt hatte, weiter nach Beteiligten der Angriffe und würden die Festnahmen fortsetzen, sagte Justizminister Flavio Dino am Sonntagabend (Ortszeit) auf einer Pressekonferenz. «Das ist Terrorismus, das ist ein Staatsstreich. Wir sind sicher, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung das nicht will», sagte Dino weiter. «Es wird ihnen nicht gelingen, die brasilianische Demokratie zu zerstören. Kriminelle werden wie Kriminelle behandelt.»
Laut Dino wird Präsident Lula am Montag zudem beim Verteidigungsministerium die Entsendung von Militärpersonal beantragen, «um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung unter seinem Kommando zu unterstützen».
Der neue Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der sich zum Zeitpunkt des Angriffs nicht in der Hauptstadt aufhielt, verurteilte die Ausschreitungen scharf und ordnete an, dass die Bundesregierung die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit in Brasília übernimmt. Der Sicherheitschef der Stadt, Anderson Torres, ehemals Justizminister unter Bolsonaro, wurde fristlos entlassen.
Lula kündigte nach den über 200 Festnahmen harte Strafen an. «Alle Vandalen werden gefunden und bestraft», sagte der Staatschef. «Wir werden auch herausfinden, wer sie finanziert hat.»
Lula befand sich zum Zeitpunkt des Sturms in der Stadt Araraquara im Bundesstaat São Paulo, um sich über die Folgen der schweren Unwetter in der Region zu informieren.
Sowohl Bolsonaros Partei als auch der ehemalige Staatschef selbst distanzierte sich von den Geschehnissen. Bolsonaro verurteilte den Angriff seiner radikalen Anhänger auf das Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasília via Twitter: «Friedliche Demonstrationen sind Teil der Demokratie. Plünderungen und Überfälle auf öffentliche Gebäude, wie sie heute stattgefunden haben und auch von den Linken 2013 und 2017 verübt wurden, fallen jedoch nicht darunter», schrieb der rechte Ex-Staatschef am Sonntag (Ortszeit).
Der 67-Jährige spielte damit unter anderem auf einen landesweiten Generalstreik im Jahr 2017 an, als Millionen Brasilianer gegen die Sparpläne der Interimsregierung um Michel Temer protestierten. Damals mussten aufgrund wütender Proteste im Regierungsviertel Brasilias mehrere Ministerien evakuiert werden, die Militärpolizei verhinderte vergleichbare Szenen wie aktuell aber mit dem Einsatz von Gummigeschossen und Tränengas.
- Manifestações pacíficas, na forma da lei, fazem parte da democracia. Contudo, depredações e invasões de prédios públicos como ocorridos no dia de hoje, assim como os praticados pela esquerda em 2013 e 2017, fogem à regra.
— Jair M. Bolsonaro 2️⃣2️⃣ (@jairbolsonaro) January 9, 2023
Auch Bolsonaros Partei verurteilte die Angriffe. «Heute ist ein trauriger Tag für die brasilianische Nation. Wir können mit der Erstürmung des Nationalkongresses nicht einverstanden sein», sagte der Vorsitzende von Bolsonaros Liberalen Partei (PL), Valdemar Costa Neto, in einem Video. «Alle geordneten Demonstrationen sind legitim. Aber das Chaos hat nie zu den Grundsätzen unserer Nation gehört. Wir verurteilen dieses Verhalten aufs Schärfste. Das Recht muss durchgesetzt werden, um unsere Demokratie zu stärken.»
Der neue Präsident Lula warf Bolsonaro vor, seine Anhänger aufgestachelt zu haben. «Sie nutzten die sonntägliche Stille, als wir noch dabei waren, die Regierung zu bilden, um zu tun, was sie taten. Es gibt mehrere Reden des ehemaligen Präsidenten, in denen er dies befürwortet. Dies liegt auch in seiner Verantwortung und in der Verantwortung der Parteien, die ihn unterstützt haben», sagte Lula.
Bolsonaro verbat sich die Anschuldigungen. «Ich weise die Vorwürfe zurück, die der derzeitige Chef der brasilianischen Regierung ohne Beweise erhebt», schrieb er. Der Ex-Militär hatte mit seiner Familie Brasilien bereits zwei Tage vor dem Ende seiner Amtszeit verlassen und war in die USA gereist.
US-Präsident Joe Biden reagierte rasch auf die Geschehnisse in Brasilien. Er verurteile die Attacke auf die Demokratie und die friedliche Machtübergabe in Brasilien, schrieb er auf Twitter. Der Wille der Brasilianer dürfe nicht untergraben werden und er freue sich auf die Zusammenarbeit mit Lula. Der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, ergänzte: «Unsere Unterstützung für die demokratischen Institutionen Brasiliens ist unerschütterlich.»
Die USA machten mit den Ausschreitungen am Sitz des US-Kongresses in Washington am 6. Januar 2021 ähnliche Erfahrungen. Damals hatten Anhänger von Donald Trump das Kapitol gestürmt, in dem die Wahlniederlage des Republikaners gegen Joe Biden beglaubigt werden sollte. Die Menge drang gewaltsam in das Gebäude ein, fünf Menschen starben.
I condemn the assault on democracy and on the peaceful transfer of power in Brazil. Brazil’s democratic institutions have our full support and the will of the Brazilian people must not be undermined. I look forward to continuing to work with @LulaOficial.
— President Biden (@POTUS) January 8, 2023
Ähnlich wie Biden äusserte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Der Wille des brasilianischen Volkes und die demokratischen Institutionen müssten respektiert werden, so Macron. Lula könne auf den uneingeschränkten Support Frankreichs zählen.
La volonté du peuple brésilien et les institutions démocratiques doivent être respectées ! Le Président @LulaOficial peut compter sur le soutien indéfectible de la France.
— Emmanuel Macron (@EmmanuelMacron) January 8, 2023
Seitens der EU reagierte der Aussenbeauftragte Josep Borrell auf die Ereignisse in Brasilien. Er nahm Bolsonaro in die Verantwortung: Die politischen Führungskräfte Brasiliens, allen voran Ex-Präsident Bolsonaro, müssten «verantwortlich handeln und ihre Anhänger auffordern, nach Hause zu gehen», mahnte Borrell. Der richtige Ort zur Lösung politischer Differenzen seien die demokratischen Institutionen Brasiliens und nicht die Gewalt in den Strassen.
Appalled by the acts of violence and illegal occupation of Brasilia's government quarter by violent extremists today.
— Josep Borrell Fontelles (@JosepBorrellF) January 8, 2023
Full support to @LulaOfficial and his government, to Congress and to the Federal Supreme Court.
Brazilian democracy will prevail over violence and extremism.
Nach Ansicht verschiedener Politiker und Beobachter zeichneten sich die Ereignisse in Brasília ab. «Das war ein angekündigtes Verbrechen gegen die Demokratie, gegen den Willen der Wähler und für andere Interessen. Der Gouverneur und sein Sicherheitsminister, ein Anhänger von Bolsonaro, sind für alles verantwortlich, was passiert», schrieb beispielsweise Gleisi Hoffmann, die Chefin der neu regierenden Arbeiterpartei, auf Twitter.
Sie spielte damit auf das Verhalten von Ex-Präsident Bolsonaro vor, während und nach den Wahlen im Herbst an. Der 67-Jährige hatte immer wieder behauptet, die Wahlen seien womöglich manipuliert und hatte damit bei seinen Unterstützern Zweifel gesät. Auch indem er die Niederlage gegen Lula nie öffentlich anerkannte und sich nicht an Gepflogenheiten, wie die Anwesenheit bei der Amtsübergabe, hielt, untergrub er nach Ansicht seiner Kritiker die demokratischen Prozesse im Land.
Nach der Abwahl reagierten Teile seiner Anhänger mit Strassenblockaden und forderten unverhohlen eine Intervention des Bolsonaro mehrheitlich freundlich gesinnten Militärs. Seitens dieses wurde aber am 11. November 2022 ein Eingreifen ausgeschlossen – mit dem Verweis, dass es die demokratischen Prozesse im Land zu wahren gelte. Dennoch hielt sich das Narrativ der «gestohlenen Wahl», ähnlich wie in den USA, unter den radikalen Anhängern Bolsonaros beharrlich. (con)
Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.
Es bildet auch fehlendes Demokratieverständnis mehr als deutlich ab.
Wollt ihr mich veräppeln?