Die Briten waren am Donnerstag aufgefordert, etwas zu tun, was ein grosser Teil von ihnen nicht wollte. Sie mussten an der Wahl des Europaparlaments teilnehmen. Dabei hätte das Vereinigte Königreich am 29. März aus der Europäischen Union austreten sollen. Nun gibt es eine neue «Deadline» bis 31. Oktober – folglich musste die Europawahl in Grossbritannien stattfinden.
Die Beteiligung dürfte sich in Grenzen halten, und der Sieger steht so gut wie fest: Der erst kürzlich gegründete Brexit-Partei des glühenden Austrittsbefürworters Nigel Farage dürfte laut den Umfragen auf mehr als 30 Prozent kommen. Die regierende Konservative Partei hingegen steuert auf ein Debakel der Extraklasse zu: Ihr droht ein Ergebnis im einstelligen Prozentbereich.
Tomorrow's front page: Theresa May set to go after Brexit fiasco https://t.co/A9KQIrednC pic.twitter.com/mUQ5qYFn3n
— The Sun (@TheSun) 22. Mai 2019
Die Resultate werden erst am Sonntag verkündet. Was auch immer geschieht, die Tage von Premierministerin Theresa May in ihrem Amt sind gezählt. Sie will angeblich schon am Freitag ihren Rücktritt verkünden, berichtete die «Times». Vielleicht wartet die 62-Jährige bis Montag und zieht dann die Konsequenzen aus dem erwarteten Wahl-Desaster. Viel länger aber kann sie sich kaum halten.
Am Mittwoch unternahm May im Unterhaus einen letzten verzweifelten Versuch, ihren mit der EU ausgehandelten Brexit-Deal zu retten. Sie stellte sogar eine Volksabstimmung darüber in Aussicht. Die Reaktionen aus den eigenen Reihen wie von der Labour-Opposition waren verheerend. Die geplante vierte Abstimmung im Parlament dürfte genauso scheitern wie die vorherigen Versuche.
Britische Zeitungen veröffentlichten am Donnerstag auf der Titelseite ein Foto, das Theresa May mit feuchten Augen auf dem Rücksitz ihrer Dienstlimousine zeigt. Die Botschaft der gnadenlosen britischen Presse war eindeutig: Diese Frau ist am Ende.
Es wäre der unrühmliche Abschluss einer knapp dreijährigen Amtszeit, in der die Premierministerin fast alles falsch gemacht hat. Der frühere Labour-Staatssekretär Denis MacShane hat im watson-Interview festgehalten, was viele auf der Insel denken: «Theresa May gehört sicherlich zu den schlechtesten britischen Premierministern, seit dieser Posten vor 300 Jahren geschaffen wurde.»
Im Juli 2016 war sie auf den glücklosen David Cameron gefolgt, der die Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens an- und in den Sand gesetzt hatte. Die damalige Innenministerin war keine Wunschnachfolgerin, eher der kleinste gemeinsame Nenner einer völlig zerstrittenen Fraktion. Mit Theresa May konnten alle irgendwie leben.
Sie hatte sich für den Verbleib in der EU eingesetzt, allerdings nur sehr lauwarm. Beim Thema Einwanderung hatte sie als zuständige Ministerin stets eine harte Linie vertreten. Kritiker unterstellen ihr sogar fremdenfeindliche Motive. Nach dem Einzug in Downing Street Nr. 10 jedenfalls mutierte sie rasch zu einer feurigen Befürworterin des Brexit.
Dabei beging sie ihren ersten und gleichzeitig grössten Fehler. Angesichts des knappen Ergebnisses von 52 zu 48 Prozent hätte sie auf die Remainer zugehen sollen, um einen möglichst umfassenden nationalen Konsens und einen für die breite Bevölkerung verträglichen EU-Austritt anzustreben. Doch May behandelte die Verlierer der Abstimmung mit offener Verachtung.
Mantraartig betete sie die Parole «Brexit means Brexit» herunter, häufig ergänzt durch den Zusatz «And we are going to make a success out of it». Dabei konnte die Premierministerin nie erklären, wie sie das in dem tief gespaltenen Königreich vollbringen wollte. Einen konkreten Plan, wie sie den Austritt aus der EU zu einem Erfolg machen wollte, blieb sie lange schuldig.
Dafür war auch ihr zweiter grosser Fehler verantwortlich. Im Juni 2017 setzt sie eine Neuwahl des Unterhauses an in der Erwartung, die Mehrheit der Konservativen auszubauen und ein Mandat für den Brexit zu erhalten. Stattdessen resultierte eine mittlere Katastrophe: Die Tories büssten ihre Mehrheit ein und waren von da an auf die Unterstützung der nordirischen Unionisten angewiesen.
Für den Schlamassel war letztlich die Regierungschefin verantwortlich. Theresa May ist eine miserable Wahlkämpferin. Ihre Abneigung gegen Smalltalk und Socialising ist bekannt. Sie trat fast nur in geschlossenem Rahmen vor einem handverlesenen Publikum auf, während Labour-Chef Jeremy Corbyn keinem Kontakt mit der Bevölkerung aus dem Weg ging.
Schon damals wurden Rufe nach Mays Rücktritt laut. Sie konnte sich halten und präsentierte schliesslich im November 2018 den mit Brüssel ausgehandelten Austrittsvertrag. Dabei musste sie sich der Realpolitik beugen: Ein «harter» Bruch mit der EU war nicht machbar ohne Gefahr für den Friedensprozess in Nordirland und die mit dem Kontinent stark verflochtene britische Wirtschaft.
Der Vertrag mit der so genannten Backstop-Lösung für die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland stiess auf erbitterten Widerstand der konservativen Brexit-Hardliner wie der Labour-Opposition. Dreimal versuchte Theresa May seit Januar, ihn vom Unterhaus absegnen zu lassen, dreimal scheiterte sie, wenn auch jedes Mal etwas weniger deutlich.
Am Ende blieb nur der Aufschub des Austrittsdatums durch die EU-Mitgliedsstaaten. Erst jetzt versuchte die Premierministerin, auf die Befürworter des Verbleibs in der EU zuzugehen und ihnen die Hand zu reichen. Dabei stand sie längst mit dem Rücken zur Wand und hatte so gut wie keinen Manövrierraum. Es war «too little, too late», wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt.
Mit ihrem absehbaren Rücktritt hinterlässt die Pfarrerstochter aus Sussex einen Scherbenhaufen. Für die Nachfolge bringt sich der ebenso sprunghafte wie prinzipienlose Ex-Aussenminister Boris Johnson in Stellung. Er ist in der Tory-Fraktion unbeliebt, doch an der Parteibasis verfügt der Blondschopf, der im Gegensatz zu May die Volksnähe beherrscht, über einigen Rückhalt.
Wer auch immer es sein wird, muss irgendwie den Brexit über die Bühne bringen. Die Grundprobleme bleiben ungelöst. Wie fragil der Frieden in Nordirland ist, zeigten die schweren Ausschreitungen im April in (London-)Derry, bei denen eine junge Journalistin «versehentlich» durch irisch-republikanische Extremisten getötet wurde.
Das neuste Alarmsignal aus der Wirtschaft lieferte am Mittwoch der Konkurs von British Steel, dem zweitgrössten Stahlfabrikanten des Landes. Als Gründe für die Pleite nannte das Unternehmen neben einer schwachen Nachfrage und hohen Rohstoffpreisen auch den Brexit. Direkt betroffen sind 5000 Mitarbeiter. Weitere 20'000 Jobs sind bei Zulieferfirmen bedroht.
Theresa May ist tatsächlich eine schlechte Premierministerin. Ihr fehlen strategisches Geschick und die Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen. Allerdings ist Labour-Chef Jeremy Corbyn kaum besser. Er eiert herum, weil er selber zeitlebens ein EU-Gegner war und Millionen Labour-Wähler für den Brexit gestimmt haben, die Parteibasis jedoch überwiegend proeuropäisch ist.
Der miserable Formstand der beiden grossen Parteien könnte zu einer Umschichtung der britischen Politlandschaft führen, wie man sie in Frankreich oder Italien bereits erlebt hat. Es wäre eine seltene Ironie, wenn die Politik im sonst so traditionsbewussten Königreich durch den Brexit ein gutes Stück «europäischer» würde. Theresa May hätte dies bestimmt nicht gewollt.