Es ist ein Drama, das sich gerade auf der deutschen Urlaubsinsel Sylt abspielt. Allerdings hat es nicht fünf Akte. Denn es ist kein klassisches Drama. Aber wie sollte es auch? Die Protagonisten sind nämlich Punks – und die halten bekanntlich nicht viel von steifer Attitüde.
Heute hat ein Polizeieinsatz dem Drama ein Ende gesetzt. Wie es so weit kam:
Angefangen hatte alles mit dem Entscheid der deutschen Regierung, eine bundesweit gültige Monatskarte für günstige 9 Euro herauszugeben, die vom 1. Juni bis zum 31. August 2022 im Personennahverkehr gültig war. Das Billett war Teil eines Entlastungspakets, das aufgrund der gestiegenen Energiekosten geschnürt wurde. Insgesamt wurden 52 Millionen solcher 9-Euro-Tickets verkauft – und viele Reisende kündigten bereits im Vorfeld an, diese Chance zu nutzen, um auf die Luxusinsel Sylt zu fahren.
Diese Ankündigung liess viele Reiche und Schöne ratlos zurück – «Welche Cüplis trinken eigentlich normale Menschen?» Das Aufeinandertreffen von vermeintlich völlig unvereinbaren Werten versetzte das Internet in Meme-Hochform, bevor das erste 9-Euro-Ticket überhaupt entwertet wurde. Ein paar Müsterchen:
Sylt jetzt vs. SÜÜÜLD nach 9€ Ticket pic.twitter.com/f8cGB67PQd
— Rito (@SoWieRito) May 3, 2022
Wir kommen pic.twitter.com/fm6brZTHiQ
— Der Gazetteur (@dergazetteur) May 5, 2022
Alles wird gut #Sylt #9EuroTicket pic.twitter.com/tQ9zk5E2Lw
— Rina 🐾🐾 (@The__Rina) May 5, 2022
Und tatsächlich kam es, wie es kommen musste: Sylt wurde am ersten Juniwochenende – an Pfingsten – gestürmt. An diesem Tag spielt auch der erste Akt unseres Dramas:
Ein gemütlicher 2.-Klasse-Zugwagon eines deutschen Nahverkehrszuges. Eine Türe rechts führt hinaus auf einen Perron. Eine blaue Tafel dort weist darauf hin, dass es sich um den Bahnhof Westerland (Sylt) handelt. Damen im Pelzmantel und mit teuren Gepäckstücken stehen am Bahnsteig. Es ist Pfingsten.
Gejohle erklingt. Eine Gruppe Menschen mit Partyhüten und übergrossen Alkoholgläsern, in denen bunte Strohhalme stecken, zerwühlen und verdrecken den Wagon; danach treten sie aus der Türe rechts auf den Perron. Einen Augenblick später poltern Punks durch den Wagon; alle schwenken ein 9-Euro-Ticket in der Hand; auch sie treten hinaus auf den Perron. Unter ihnen ist der Punk, «der noch kein Meer gesehen hat».
In den Tagen darauf erhielten besonders 150 Punks viel mediale Aufmerksamkeit. Sie waren angereist, um gegen das Schickimicki-Image der Insel-Gäste zu protestieren. Weitere Party-Touristen lieferten der Presse Bilder, indem sie die Insel der Reichen und Schönen zu «Sylle» degradierten:
Die Protestgruppe «Aktion Sylt» lud Anfang Juni zu einem «Protestcamp» auf die Insel.
Interessant dabei: Auf der Webseite der «Aktion Sylt», schreibt das« Kollektiv linker Aktivist*innen» über sich und ihr Projekt im Konjunktiv I:
Die nordfriesischen Inselbewohner waren von dieser Ankündigung nur mässig begeistert. Denn die Punks waren seit ihrer Ankunft mit schlechten Manieren aufgefallen. Der Sylter Gastronom Mickey Schreiber erzählte gegenüber t-online, dass die Punks zu Wildpinkler mutiert seien und dass sie den Brunnen «Dicke Wilhelmine», ein Wahrzeichen Westerlands, belagert hätten. Es sei deswegen auch zu Ausschreitungen zwischen den Wirten und den unerwünschten Gästen gekommen. Sylts Bürgermeister Nikolas Häckel griff zu drastischen Mitteln und liess den Brunnen kurzerhand einmauern.
Ein paar Wochen später liess sich ein Mann als Zeichen des Protests mit Klebeband an diese Mauer kleben – die Anarchisten bedienten sich dabei christlicher Symbolik:
Doch zuerst einmal waren die Wirte um den Brunnen der «Dicke Wilhelmine» die Punks los. Denn nachdem die Mauer errichtet worden war, zogen sie weiter in das von der Gemeinde genehmigte «Protestcamp» im Rathauspark, das sie über mehrere Monate in wechselnder Besetzung bewohnen werden. Dieses Protestcamp ist die Kulisse für unseren zweiten Akt:
Zelte stehen zufällig verteilt auf einer Wiese mit Bäumen. In einem Baum hängen die Überreste eines goldigen Banners; der Schriftzug ist noch erkennbar: «WIR KÖNNEN UNS DIE REICHEN NICHT MEHR LEISTEN.» Hinten links döst der Punk, «der noch kein Meer gesehen hat», unter einer Blache, die zwischen zwei der Bäume gespannt ist. Zwischen den Zelten liegt Abfall, und ein paar Jeanswesten mit aufgenähten Badges. Vorne rechts steckt ein ramponiertes Protestplakat mit der Aufschrift: «Bezahlbarer Lebensraum für Alle» in der Wiese. Das «A» ist umkreist.
Für den 16. Juli organisierten linke Gruppierungen eine Demo unter dem Motto #syltentern. Das Ziel: Ein «Zeichen gegen den Wohlstandstourimus» setzen. Mehrere hundert Teilnehmende zogen an diesem Tag durch Sylt, lauschten Wortbeiträgen und tanzten zu Livemusik:
#SyltEntern pic.twitter.com/YLfN7M0G7l
— Monitorex (@Monitorex_fotos) July 16, 2022
Mitte August kommt es zum Tiefpunkt im Protestcamp: Laut der «Sylter Rundschau» hat sich ein 28-jähriger Punk versehentlich selbst angezündet. Der junge Mann erlitt schwerste Verbrennungen am Oberkörper. Er wurde dem Bericht zufolge mit einem Hubschrauber in ein Krankenhaus nach Hamburg geflogen.
Inmitten all des Wirbels, der die Punks auf Sylt veranstalteten, gaben sich der deutsche Finanzminister Christian Lindner und Franca Lehfeldt am 7. Juli das Jawort. Nur wenige Tage zuvor hatte das Finanzministerium von Lindner angekündigt, dass Pläne bestünden, den Rotstift bei den Ärmsten anzusetzen: Hartz-4-Zahlungen sollen gekürzt werden.
Die Punks auf Sylt hätten also durchaus Grund zum Aufstand gehabt.
Doch die Statements, die ein T-Online-Reporter auf dem Dorfplatz einholte, waren nicht sehr kritisch. «Ich will einfach ein bisschen nerven. Wünsche ihnen aber alles Gute», sagt Lisa aus Berlin. Der etwas ramponiert wirkende Jochen ist sich indes sicher: «Den Spass, den wir hier haben, haben die sicher nicht. Bei uns kann jeder mitmachen.»
Hier schliesst der dritte Akt an – ein Monolog:
Ein leerer, quadratischer Beton-Brunnen steht auf einem Dorfplatz, wie er überall in Deutschland sein könnte. Der Punk, «der (immer noch) noch kein Meer gesehen hat» sitzt auf dem Rand des Beton-Brunnens. Im Hintergrund plätschert ein kitschiger Champagner-Brunnen und der Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy spielt leise. Es regnet Geld von der Decke über dem Champagner-Brunnen. Zwischen dem Beton-Brunnen und dem Champagner-Brunnen stehen zwei bewaffnete Polizisten und zwei Security-Leute.
Punk «Spinne» betritt den Dorfplatz und wendet sich direkt an die Polizei.
Der vierte und finale Akt des dreimonatigen Punk-Sommers auf Sylt endet mit einem Polizeieinsatz. Die letzte Szenerie:
Das Protestcamp. Der Champagner-Brunnen liegt umgekippt vorne mittig. Polizisten umstellen das menschenleere Gelände.
Zuletzt lebten noch etwa 20 Punks im Camp. Bürgermeister Häckel hatte sie in den letzten Wochen mehrfach aufgefordert, den Ort zu räumen.
Die Punks hatten bis zuletzt um eine weitere Genehmigung ihrer Aktion gekämpft – sogar vor Gericht. Denn ein Entscheid des Kreises Nordfriesland verwies die Armen aus der Bubble der Reichen. Doch die Punks blieben. Das Verwaltungsgericht in Schleswig erklärte daraufhin die Auflösung des Protestcamps für rechtmässig. Die Punks reichten am vergangenen Freitag eine Beschwerde ein. Am Montag, 12. September, hatte das Oberverwaltungsgericht in Schleswig ihren Einspruch jedoch abgelehnt – die Punks müssen gehen.
«Das Camp ist leer», sagte eine Polizeisprecherin der Nachrichtenagentur dpa am 14. September 2022. Obwohl die Punks am Schluss wohl freiwillig abgezogen sind, wurden für mehrere Orte in Sylt Platzverweise ausgesprochen – auch für den Platz mit dem Wilhelminen-Brunnen.
Bei einem klassischen Drama würde hier noch ein fünfter Akt folgen: Der Held würde sterben, oder der Konflikt verpuffte. Aber weder das eine noch das andere zeichnet sich bei unserem Drama ab. Denn dieses Drama spielt nicht auf einer Theaterbühne, sondern eben auf Sylt.
«Ich will einfach ein bisschen nerven»
😂 …was zum … 🤨