Für Severin Köhler scheint der Ausflug in den Osten Deutschlands einem Kuraufenthalt zu gleichen. «Im Westen werden wir oft angepöbelt, hier finden uns fast alle gut», sagt er am Wahlkampfstand seiner Partei in der Fussgängerzone von Suhl, einer Kleinstadt im Süden Thüringens.
Köhler gehört der AfD an. Um seine Parteikollegen im Wahlkampf zu unterstützen, ist der 28-Jährige aus dem Stuttgarter Umland nach Thüringen gereist. Die Diktaturerfahrung mache den Unterschied zwischen Ost und West aus, behauptet der stämmige, blonde Jungpolitiker: Die Ostdeutschen wüssten, dass der Inlandsgeheimdienst der Bundesrepublik so schlimm sei wie die Staatssicherheit der DDR.
Dass eine Rentnerin, die sich als langjährige AfD-Wählerin vorstellt, Sehnsucht nach dem Arbeiter- und Bauernstaat bekundet, passt da weniger gut ins Bild: «Uns hat keiner gefragt, ob wir wiedervereinigt werden wollen», erklärt sie unter dem besorgten Blick der AfD-Funktionäre einem Journalisten aus Japan.
Diese Form der Systemkritik passt nicht zur Erzählung der AfD.
Heute müsse man als Ostdeutscher froh sein, wenn man 1000 Euro Rente im Monat bekomme, fährt die Frau fort. Da hellen sich die Blicke der Parteileute wieder auf, zumal sie nun bekennt, den thüringischen AfD-Chef Björn Höcke «sehr klug und sympathisch» zu finden. «Nix von Neonazi!», ruft sie. Ihren Namen will sie nicht nennen, wer wisse schon, was ihr sonst geschehen werde: «Wir sind Untertanen wie bei Thomas Mann», behauptet sie unter Anspielung auf einen Roman, den allerdings Thomas Manns Bruder Heinrich geschrieben hat.
Bei der Landtagswahl am kommenden Sonntag könnte die AfD in Thüringen stärkste Partei werden; das Attentat von Solingen, das nach dem Besuch des Korrespondenten in Suhl stattfand, könnte den Rechten zusätzlichen Rückenwind geben. Suhl ist eine ihrer Hochburgen: Bei der Wahl zum EU-Parlament im Juni hat die AfD hier mehr als ein Drittel der Stimmen erhalten. Das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) erhielt 20 Prozent, so viel wie die CDU. SPD, Grüne und FDP, die drei Berliner Regierungsparteien, gewannen in Suhl zusammen noch 13 Prozent.
Für die meisten hier ist die AfD längst eine normale Partei, und so treten ihre Vertreter auch auf. Thomas Luhn, ein Mann mit Halbglatze und stechendem Blick, will für die Rechten in den Landtag einziehen. Auf den Einwand, mit Höcke stehe ein Extremist an der Spitze der Thüringer Landespartei, geht der 56-Jährige gar nicht erst ein. «Höcke ist mein Martin Luther», sagt er stattdessen. Wie einst der Reformator werde auch der Thüringer AfD-Chef von der Obrigkeit verfolgt.
Um Ministerpräsident zu werden, fehlen Höcke potenzielle Koalitionspartner, denn Christdemokraten und BSW wollen bis jetzt kein Bündnis mit ihm schliessen. Doch die AfD-Leute scheinen auf die normative Kraft des Faktischen zu setzen: 68 Prozent der ostdeutschen CDU-Mitglieder wollten eine Zusammenarbeit ihrer Partei mit der AfD, sagt Luhn. In der Kommunalpolitik kooperiere man längst. Den Suhler CDU-Oberbürgermeister nennt er etwas gönnerhaft «einen ordentlichen jungen Mann, der einen guten Job macht».
Carolin Lichtenheld, eine ernst und eher scheu wirkende 21-Jährige, ist stellvertretende Thüringer Landeschefin der Jungen Alternative (JA), der AfD-Nachwuchs-Organisation, die Kontakte ins Neonazi-Milieu unterhält und selbst manchen AfD-Leuten zu radikal ist. Seit sie 13 ist, marschiert Lichtenheld auf Kundgebungen der Rechten mit.
Ihr Jura-Studium in Jena habe sie abgebrochen, weil es für sie «an einer linken Uni eher schwierig» gewesen sei. Der CDU-Nachwuchs halte noch Abstand zur JA, sagt Lichtenheld:
Auch wenn sich hier rund 50 Prozent der Wähler für Parteien entscheiden, die als extremistisch, radikal oder zumindest populistisch gelten: Wie ein Notstandsgebiet wirkt Suhl nicht. Die Fussgängerzone mit ihren sanierten Fachwerkhäusern macht einen belebten Eindruck, auch wenn viele Passanten am Rollator gehen: Das Durchschnittsalter liegt bei 50 Jahren. 1990 hatte die Stadt 60'000 Einwohner, heute sind es noch 35'000.
Das grosse Thema in Suhl sind die Asylbewerber «vom Friedberg». Dort hat das Land Thüringen 2015 eine zentrale Erstaufnahmeeinrichtung eingerichtet, in der seither um die tausend Menschen leben. Die Zustände dort oben, so hört man allenthalben, seien katastrophal. Das Gebäude, eine frühere Kaserne der DDR-Volksarmee, sei ungeeignet. Die Bewohner, vor allem Syrer und Afghanen, dürfen nicht arbeiten und leben von einem kargen Sackgeld. Mittwochs, wenn sie ihre Zahlung erhielten, machten sie die Stadt unsicher, berichten viele Suhler.
Stehe die Landesregierung nicht zu ihrem Wort, die Einrichtung 2026 zu schliessen, werde es einen Aufstand geben, sagt eine Frau in der Fussgängerzone. Sie berichtet von krakeelenden Betrunkenen und sexueller Belästigung. In der Regionalbahn nach Erfurt pöbelten und randalierten manche Asylbewerber, um eine kostenlose Beförderung zu erzwingen. Sie werde rechts wählen, sagt die Frau:
Philipp Weltzien steht rauchend vor dem Büro seiner Partei. Der 36-jährige Kinnbart-Träger vertritt den Wahlkreis im Landtag und gehört der Linkspartei an, die derzeit noch den Ministerpräsidenten stellt, am Sonntag jedoch abstürzen dürfte. Auch ihn beschäftigt «der Friedberg». Während der Corona-Pandemie seien dort 800 Menschen eingesperrt gewesen. Zum Essen hätten sie oft nur drei Scheiben Toast und etwas Leberwurst erhalten, und dies, obwohl sie Muslime seien.
Für die Klagen der Bürger scheint Weltzien nicht immer Verständnis zu haben: Auch Deutsche könnten doch eine Bedrohung sein, sagt er trotzig. «Die entscheidende Frage ist doch: Ist einer ein Arschloch oder nicht?» Die Gefahr, die durch die Asylbewerber ausgehe, hält er für übertrieben:
Lars Jähne, sein Konkurrent von der CDU, ärgert sich darüber, dass fast immer von der Erstaufnahme die Rede sei, wenn über Suhl berichtet werde. «Ich fühle mich wohl hier», sagt er beim Gespräch in einem Café in der Innenstadt. Der gemütlich wirkende 50-Jährige hat zwei Jahre lang als Rettungssanitäter auf dem Friedberg gearbeitet. Zum Besseren verändert habe sich in diesem Zeitraum nichts.
«Die Landesregierung hält Abmachungen nicht ein», sagt Jähne. Immer wieder gebe es Übergriffe auf Verkäuferinnen oder Busfahrer. Doch das Land weigere sich, den Sicherheitsdienst in einer Buslinie zu finanzieren. In den Wohngebieten um die Einrichtung sei bei manchen schon sechs Mal eingebrochen worden. Viele Journalisten urteilten zu schnell, klagt Jähne.
Wie zur Bestätigung betritt ein junger, schwarzer Mann mit Dreadlocks das Lokal und grüsst den ihm bekannten CDU-Politiker freundlich.
«Es wird schwer», sagt Jähne mit Blick auf die anstehende Wahl: Die Umfragewerte deuten nicht darauf hin, dass er gegen die Kandidaten von AfD und BSW eine Chance haben dürfte. Im Umgang mit der AfD scheint der Christdemokrat um einen Mittelweg bemüht zu sein:
Für eine Koalition brauche es bei der AfD «massivste strukturelle Veränderungen».
Im Stadtrat hätten die Rechten in den letzten Jahren keine Anträge eingebracht, die seine Partei hätte mittragen können. Dass CDU und FDP im Erfurter Landtag gemeinsam mit der AfD eine Steuersenkung beschlossen haben, finde er aber richtig, schliesslich gehe es um die Sache.
Im Gewerbegebiet von Zella-Mehlis, wenige Kilometer von Suhl entfernt, sitzt die Spedition von Steffi und Thoralf Eschrich. 35 Angestellte beschäftigen die beiden. Müsste man Steffi Eschrich parteipolitisch einordnen, man würde wohl auf die FDP tippen, allenfalls auf die CDU. Doch die Gewerblerin und ihr Ehemann gehören dem BSW an. Für die neue Partei will Steffi Eschrich in den Landtag einziehen.
«Frieden, Frieden, Frieden», das sei es, was sie bewege, erklärt die 56-Jährige im kargen Besprechungsraum des Unternehmens. Wenn Politiker davon redeten, Deutschland müsse wieder kriegstüchtig werden, bekomme sie Angst. Ob sie eine Linke sei? «Kein bisschen!», ruft Eschrich.
Ins gängige ideologische Schema lässt sich die Wagenknecht-Partei tatsächlich schwer einordnen. Neben der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine ist es vor allem die Forderung nach einer strikteren Migrationspolitik, durch die das BSW auffällt.
Die AfD verfolgt in diesen Bereichen ähnliche Ziele. Glaubt man den Demoskopen, wählen alte Leute tendenziell BSW, jüngere AfD. Steffi Eschrich will mit den Rechten nichts zu tun haben: «Dass Thüringen blau wird, ist die grösste Gefahr», sagt sie unter Anspielung auf die Parteifarbe der AfD. Deren Chef Höcke habe in einer Rede vor einer Vermischung der Rassen gewarnt.
Am frühen Abend, zurück in der Suhler Innenstadt, stehen die AfD-Leute noch immer in der Fussgängerzone. «Wir kommen als Erste und gehen als Letzte», sagt AfD-Kandidat Thomas Luhn. Zwölf Stunden täglich investiere er in seinen Wahlkampf. Die Zuversicht ist ihm anzusehen. CDU, SPD und Linkspartei haben ihre Stände längst wieder abgebaut. (aargauerzeitung.ch)
Wow, so Aussagen und sich dann fragen, wieso die AfD die Stimmen erhält.
Natürlich gibt es Dinge, welche die Politik angehen sollte. Aber viele dieser „Sorgen“ entstammen einfach einem verzerrten Selbstbild mit absurder Anspruchshaltubg und einem gestörten Realitätswahrnehmung, sorry.
Ich weiss schon, dass genau solche Einschätzungen die Leute in die Arme der AfD treiben. Aber wer ernsthaft Politik machen will, kann einfach nicht ständig allen Leuten erzählen, was sie hören wollen.