Es war einer jener Sätze, die erst einmal zu verhallen scheinen, bevor ihnen später, in der Rückschau, historische Bedeutung zugesprochen wird: «Wir haben so vieles schon geschafft. Wir schaffen das», sagte die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel vor zehn Jahren, am 31. August 2015, auf einer Pressekonferenz in Berlin. In den Zeitungen des nächsten Tages wurde der Ausspruch allenfalls vereinzelt zitiert. Doch mit der Zeit entfaltete er seine Wirkung, sodass er ihr, wie Merkel in ihren Memoiren schreibt, bis heute «um die Ohren gehauen» werde.
Durch den Satz, der vielen schon bald als Ausweis von Arroganz, Naivität oder Vermessenheit erschien, wollte die Kanzlerin ihren Landsleuten wohl Mut machen: Hunderttausende Flüchtlinge, vor allem aus dem Bürgerkriegsland Syrien, wollten damals nach Westeuropa.
Am Budapester Ostbahnhof sassen sie dicht gedrängt; fünf Tage vor Merkels Pressekonferenz hatte eine Nachricht aus Parndorf im Osten Österreichs Europa schockiert. 71 tote Syrer, Afghanen, Iraker und Iraner waren dort in einem Kühllastwagen am Rand einer Autobahn aufgefunden worden. Und zwei Tage nach dem Auftritt der Kanzlerin erschien das Bild Alan Kurdis in den Zeitungen, eines dreijährigen syrisch-kurdischen Buben, der tot an einem türkischen Strand angeschwemmt worden war.
In dieser emotional aufgeladenen Situation schwankte Deutschland zwischen Hilfsbereitschaft und Furcht vor dem, was kommen mochte: Viele strömten an die Bahnhöfe, um bei der Aufnahme der Flüchtlinge zu helfen. Andere wüteten: Im sächsischen Heidenau war die Kanzlerin fünf Tage vor ihrer Pressekonferenz von einem Pöbel als «Schlampe», «Hure» und «Volksverräterin» beschimpft worden.
Merkel liess sich nicht beirren: Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, «dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land», sagte sie, die als Oppositionsführerin, aber auch in den ersten knapp zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft noch für eine restriktive Asylpolitik eingetreten war, in Einklang mit der migrationskritischen Tradition ihrer christdemokratischen Partei.
Im Nachhinein muss man wohl sagen, dass Merkel von den Ereignissen überrollt wurde. Noch am Tag ihrer Pressekonferenz liessen ungarische Polizisten Flüchtlinge in Züge nach Österreich und Deutschland einsteigen. Tausende machten sich gen Westen auf.
Am 4. September 2015 beschlossen Merkel und ihr österreichischer Amtskollege Werner Faymann, sich der normativen Kraft des Faktischen zu beugen. Aufgrund der «Notlage an der ungarischen Grenze» begannen Deutschland und Österreich, Menschen aufzunehmen. Man mag sich nicht vorstellen, welch hässliche Bilder von den Grenzen um die Welt gegangen wären, hätten Wien und Berlin versucht, den Ansturm abzuwehren.
Die Zahlen sind eindrücklich: Über 400'000 Asylbewerber wurden 2015 in Deutschland verzeichnet, mehr als doppelt so viele wie im Jahr davor. Tatsächlich waren es noch erheblich mehr, denn die Behörden waren mit der Registrierung überfordert; 2016 registrierten sie über 700'000.
Und waren es 2014 noch insgesamt 750'000 Menschen, die in der Bundesrepublik auf einen Asylbescheid warteten, sind es heute über drei Millionen. Dass dies erhebliche Belastungen für Städte und Gemeinden mit sich bringt, liegt auf der Hand, zumal seit dem Frühjahr 2022 zusätzlich noch über eine Million Ukrainer nach Deutschland gekommen sind, die aufgrund einer Sonderregelung kein Asyl beantragen müssen.
Seit 2015 ist die Bundesrepublik nicht mehr dieselbe: Die AfD, zweieinhalb Jahre zuvor von Kritikern der sogenannten Eurorettungspolitik gegründet, hatte ihr erstes grosses Thema verloren und serbelte in den Umfragen vor sich hin. Mit der Migrationspolitik fand sie ein neues Thema – und zog 2017 mit 12 Prozent der Stimmen erstmals in den Bundestag ein.
Es ist ein härteres, weniger konsensorientiertes Deutschland, das Merkel hinterlassen hat. Ortsnamen wie Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg wurden zu Chiffren für migrantische Gewalt. Viele Flüchtlinge, oft unbegleitete junge Männer, richteten ihren Zorn über das eigene Scheitern gegen die Aufnahmegesellschaft; das polemische Wort von «Merkels Toten» machte nach jedem Anschlag von neuem die Runde.
Manchmal gelang die Integration aber auch: Knapp die Hälfte derjenigen zwischen 18 und 65, die seit 2015 angekommen seien, habe fünf Jahre nach ihrer Ankunft einen Job, heisst es in einer neuen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung; von denen, die acht Jahre oder länger da seien, verdienten 68 Prozent Geld durch Arbeit.
Diese Zahlen beruhen auf Selbstauskünften, die von den Forschern hochgerechnet wurden. Es ist also möglich, dass sie besser aussehen als die Realität, zumal viele von denen, die arbeiten, Geringverdiener sind, die ihr Einkommen durch staatliche Transferleistungen aufstocken. Trotzdem deutet die Studie auf Erfolgsgeschichten hin, die naturgemäss sehr viel weniger Aufmerksamkeit erhalten als Messer-Attentate.
Angela Merkels Migrationspolitik war vielschichtiger, als manche ihrer Gegner behaupten: Die Kanzlerin erkannte sehr wohl, dass Deutschlands Aufnahmefähigkeit begrenzt war: Im Frühjahr 2016 gehörte sie zu denen, die ein Migrationsabkommen mit der Türkei aushandelten, sodass die Zahl der Neuankömmlinge erst einmal stark zurückging. Merkel erwies sich als Realpolitikerin, die sich auch mit einem autoritären Herrscher wie dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verständigte, wenn es deutschen Interessen diente.
Dieses Abkommen besteht noch immer, sodass die heutige, ruhige Lage an den deutschen Grenzen zumindest teilweise auch Merkels Verdienst ist. Ob ein neuer Flüchtlingsansturm bevorsteht, liegt allerdings nicht zuletzt in Erdogans Händen. So muss Friedrich Merz, Merkels Nachfolger, Parteikollege und Kritiker, darauf hoffen, dass er nicht irgendwann vor einer ähnlichen Entscheidung steht wie Angela Merkel vor zehn Jahren. (aargauerzeitung.ch)
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