International
Deutschland

Angela Merkels Satz zur Migration in Deutschland: Was ist davon übrig?

ARCHIV - 28.08.2017, Berlin: Ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt in die Bundespressekonferenz in Berlin zur Sommer-Pressekonferenz und hat die Fingerspitzen aneinandergelegt. (zu dpa:
Angela Merkels Satz «Wir schaffen das» hallte lange nach.Bild: keystone

«Wir schaffen das»: Angela Merkel, Mutter aller deutschen Probleme?

Im Spätsommer 2015 öffnete die damalige deutsche Kanzlerin die Grenzen. Sie hinterliess ein anderes, härteres Deutschland. Wer ihre Politik verdammt, irrt allerdings ebenso wie ihre Verklärer.
31.08.2025, 11:5831.08.2025, 11:58
Hansjörg Friedrich Müller aus Berlin / ch media
Mehr «International»

Es war einer jener Sätze, die erst einmal zu verhallen scheinen, bevor ihnen später, in der Rückschau, historische Bedeutung zugesprochen wird: «Wir haben so vieles schon geschafft. Wir schaffen das», sagte die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel vor zehn Jahren, am 31. August 2015, auf einer Pressekonferenz in Berlin. In den Zeitungen des nächsten Tages wurde der Ausspruch allenfalls vereinzelt zitiert. Doch mit der Zeit entfaltete er seine Wirkung, sodass er ihr, wie Merkel in ihren Memoiren schreibt, bis heute «um die Ohren gehauen» werde.

Durch den Satz, der vielen schon bald als Ausweis von Arroganz, Naivität oder Vermessenheit erschien, wollte die Kanzlerin ihren Landsleuten wohl Mut machen: Hunderttausende Flüchtlinge, vor allem aus dem Bürgerkriegsland Syrien, wollten damals nach Westeuropa.

Ein Land schwankt zwischen Hilfsbereitschaft und Furcht

Am Budapester Ostbahnhof sassen sie dicht gedrängt; fünf Tage vor Merkels Pressekonferenz hatte eine Nachricht aus Parndorf im Osten Österreichs Europa schockiert. 71 tote Syrer, Afghanen, Iraker und Iraner waren dort in einem Kühllastwagen am Rand einer Autobahn aufgefunden worden. Und zwei Tage nach dem Auftritt der Kanzlerin erschien das Bild Alan Kurdis in den Zeitungen, eines dreijährigen syrisch-kurdischen Buben, der tot an einem türkischen Strand angeschwemmt worden war.

In dieser emotional aufgeladenen Situation schwankte Deutschland zwischen Hilfsbereitschaft und Furcht vor dem, was kommen mochte: Viele strömten an die Bahnhöfe, um bei der Aufnahme der Flüchtlinge zu helfen. Andere wüteten: Im sächsischen Heidenau war die Kanzlerin fünf Tage vor ihrer Pressekonferenz von einem Pöbel als «Schlampe», «Hure» und «Volksverräterin» beschimpft worden.

Merkel liess sich nicht beirren: Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, «dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land», sagte sie, die als Oppositionsführerin, aber auch in den ersten knapp zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft noch für eine restriktive Asylpolitik eingetreten war, in Einklang mit der migrationskritischen Tradition ihrer christdemokratischen Partei.

Im Nachhinein muss man wohl sagen, dass Merkel von den Ereignissen überrollt wurde. Noch am Tag ihrer Pressekonferenz liessen ungarische Polizisten Flüchtlinge in Züge nach Österreich und Deutschland einsteigen. Tausende machten sich gen Westen auf.

Die AfD serbelte vor sich hin – nun hatte sie ein neues Thema

Am 4. September 2015 beschlossen Merkel und ihr österreichischer Amtskollege Werner Faymann, sich der normativen Kraft des Faktischen zu beugen. Aufgrund der «Notlage an der ungarischen Grenze» begannen Deutschland und Österreich, Menschen aufzunehmen. Man mag sich nicht vorstellen, welch hässliche Bilder von den Grenzen um die Welt gegangen wären, hätten Wien und Berlin versucht, den Ansturm abzuwehren.

Die Zahlen sind eindrücklich: Über 400'000 Asylbewerber wurden 2015 in Deutschland verzeichnet, mehr als doppelt so viele wie im Jahr davor. Tatsächlich waren es noch erheblich mehr, denn die Behörden waren mit der Registrierung überfordert; 2016 registrierten sie über 700'000.

epa04930491 Migrants who had arrived from Roszke by train, walk toward Austria in Hegyeshalom, 168 kilometers west from Budapest, Hungary, 14 September 2015. Thousands of migrants were rushing to reac ...
Von Ungarn her strömten Tausende Migranten Richtung Westen.Bild: EPA/MTI

Und waren es 2014 noch insgesamt 750'000 Menschen, die in der Bundesrepublik auf einen Asylbescheid warteten, sind es heute über drei Millionen. Dass dies erhebliche Belastungen für Städte und Gemeinden mit sich bringt, liegt auf der Hand, zumal seit dem Frühjahr 2022 zusätzlich noch über eine Million Ukrainer nach Deutschland gekommen sind, die aufgrund einer Sonderregelung kein Asyl beantragen müssen.

Seit 2015 ist die Bundesrepublik nicht mehr dieselbe: Die AfD, zweieinhalb Jahre zuvor von Kritikern der sogenannten Eurorettungspolitik gegründet, hatte ihr erstes grosses Thema verloren und serbelte in den Umfragen vor sich hin. Mit der Migrationspolitik fand sie ein neues Thema – und zog 2017 mit 12 Prozent der Stimmen erstmals in den Bundestag ein.

Es ist ein härteres, weniger konsensorientiertes Deutschland, das Merkel hinterlassen hat. Ortsnamen wie Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg wurden zu Chiffren für migrantische Gewalt. Viele Flüchtlinge, oft unbegleitete junge Männer, richteten ihren Zorn über das eigene Scheitern gegen die Aufnahmegesellschaft; das polemische Wort von «Merkels Toten» machte nach jedem Anschlag von neuem die Runde.

epaselect epa11562299 Emergency services after a knife attack during the city festival in a street in Solingen, Germany, 23 August 2024. According to the police, at around 9.45 pm a man stabbed passer ...
Im August 2024 kam es in Solingen zu einer Messerattacke.Bild: keystone

Europa bleibt von Erdogans Wohlwollen abhängig

Manchmal gelang die Integration aber auch: Knapp die Hälfte derjenigen zwischen 18 und 65, die seit 2015 angekommen seien, habe fünf Jahre nach ihrer Ankunft einen Job, heisst es in einer neuen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung; von denen, die acht Jahre oder länger da seien, verdienten 68 Prozent Geld durch Arbeit.

Diese Zahlen beruhen auf Selbstauskünften, die von den Forschern hochgerechnet wurden. Es ist also möglich, dass sie besser aussehen als die Realität, zumal viele von denen, die arbeiten, Geringverdiener sind, die ihr Einkommen durch staatliche Transferleistungen aufstocken. Trotzdem deutet die Studie auf Erfolgsgeschichten hin, die naturgemäss sehr viel weniger Aufmerksamkeit erhalten als Messer-Attentate.

Angela Merkels Migrationspolitik war vielschichtiger, als manche ihrer Gegner behaupten: Die Kanzlerin erkannte sehr wohl, dass Deutschlands Aufnahmefähigkeit begrenzt war: Im Frühjahr 2016 gehörte sie zu denen, die ein Migrationsabkommen mit der Türkei aushandelten, sodass die Zahl der Neuankömmlinge erst einmal stark zurückging. Merkel erwies sich als Realpolitikerin, die sich auch mit einem autoritären Herrscher wie dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verständigte, wenn es deutschen Interessen diente.

Dieses Abkommen besteht noch immer, sodass die heutige, ruhige Lage an den deutschen Grenzen zumindest teilweise auch Merkels Verdienst ist. Ob ein neuer Flüchtlingsansturm bevorsteht, liegt allerdings nicht zuletzt in Erdogans Händen. So muss Friedrich Merz, Merkels Nachfolger, Parteikollege und Kritiker, darauf hoffen, dass er nicht irgendwann vor einer ähnlichen Entscheidung steht wie Angela Merkel vor zehn Jahren. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
So lustig sind die Deutschen: 20 witzige Bilder
1 / 22
So lustig sind die Deutschen: 20 witzige Bilder
bild: imgur
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Das sind die witzigsten Merkel-Momente
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
115 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Texasrider
31.08.2025 12:06registriert April 2021
Schlimmste Entscheidung der letzten 20 Jahre. Alles schönreden nützt da nichts.
18257
Melden
Zum Kommentar
avatar
El_Chorche
31.08.2025 12:45registriert März 2021
"Wir schaffen das" ohne selber mit den Konsequenzen leben zu müssen.

So geht Politik in der heutigen Zeit.
15945
Melden
Zum Kommentar
avatar
slnstrm
31.08.2025 12:20registriert August 2023
Das haben die Deutschen bei der letzten Wahl mehrheitlich offenbar nicht so gesehen. Aber nächstes Mal. 😄
9431
Melden
Zum Kommentar
115
Seit zweieinhalb Jahren im Koma: Thailands Palast gibt Gesundheitsupdate zu Prinzessin Bha
Die thailändische Prinzessin Bajrakitiyabha liegt seit zweieinhalb Jahren bewusstlos in einem Krankenhaus in Bangkok. Nach einer kürzlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands gibt der Palast nun leichte Entwarnung: Der Allgemeinzustand der 46-Jährigen habe sich nach Komplikationen wegen einer Blutvergiftung insgesamt verbessert, hiess es in einer Mitteilung des königlichen Haushaltsbüros. Ihr Blutdruck sei trotz des Absetzens blutdrucksteigernder Medikamente mittlerweile konstant.
Zur Story