Das Siechtum der deutschen Ampel-Koalition bietet seit langem einen quälenden Anblick; nun deutet manches darauf hin, das sich das ungeliebte Zweckbündnis von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen in seinen letzten Zuckungen befinden könnte. Eigentlich sollten die Deutschen erst in einem knappen Jahr einen neuen Bundestag wählen, mittlerweile wird über vorgezogene Neuwahlen am 9. März spekuliert.
Dass der Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen den drei Koalitionspartnern seit langem aufgebraucht ist, war nie deutlicher sichtbar als am Dienstag: Gleich zwei Gipfeltreffen von Regierungs- und Wirtschaftsvertretern fanden an diesem Tag statt, das eine im Kanzleramt, das andere in den Räumen der FDP-Fraktion im Bundestag.
Der FDP-Gipfel muss als Racheakt des liberalen Finanzministers Christian Lindner gelten: Nachdem der sozialdemokratische Kanzler Olaf Scholz Unternehmer und Gewerkschaften eingeladen hatte, ohne dies mit Lindner und dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck abzusprechen, lud der Finanzminister jene Vertreter des Mittelstands und des Handwerks zum Gegengipfel, die Scholz übergangen hatte.
Dem Vorgehen der Regierenden haftete etwas Frivoles an: Treffen, wie Scholz und Lindner sie abgehalten haben, beruft man in Krisenzeiten ein. In solchen befindet sich Deutschland zwar zweifellos, doch ist das Ziel derartiger Gipfel für gewöhnlich eine konzertierte Aktion von Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften, um eine Krise zu überwinden.
Diese Absicht können Scholz und Lindner allerdings kaum ernsthaft verfolgt haben, kann man sich auf eine solche Aktion doch nur einigen, wenn alle Beteiligten – also auch die Regierung – vor den Verhandlungen wissen, was sie wollen. So blieben die konkurrierenden Treffen ohne konkrete Ergebnisse. Sie wirkten wie vorgezogene Wahlkampfmanöver.
Mit den Gipfeln steckten die Koalitionspartner ihre Claims ab: Scholz will sich als Kümmer-Kanzler darstellen, für den die Wirtschaft Chefsache ist; Lindner arbeitet an seinem Bild als Freund kleinerer und mittelgrosser Unternehmen, die ihre Produktion nicht so einfach ins Ausland verlagern können. Darüber hinaus sieht er sich als strenger, frugaler Schatzkanzler.
Da kann auch Habeck nicht zurückstehen: Er propagiert einen mehrere hundert Milliarden Euro schweren «Deutschlandfonds», durch den er die Schuldenbremse, ein Herzensanliegen Lindners, aushebeln will. Seinen eigenen Gipfel plant auch Habeck: Der Grünen-Politiker will sich Ende November mit Wirtschaftsvertretern treffen.
Neu ist, dass sich Scholz, Habeck und Lindner öffentlich beharken. Bisher haben sie dies ihren Parteikollegen aus der zweiten oder dritten Reihe überlassen und sich selbst stets respektvoll übereinander geäussert. Nun wirft der Kanzler den beiden anderen vor, Theaterbühnen zu bespielen.
Die nächste (und womöglich entscheidende) Bewährungsprobe steht der Regierung demnächst bevor: Bis zum 15. November müssen sich die Koalitionspartner auf ein Budget für 2025 einigen.
Dass ein hoher einstelliger Milliardenbetrag nicht wie geplant ausgegeben werden kann, sollte bei einem Gesamtvolumen von über 500 Milliarden Euro zwar kein unüberwindliches Hindernis darstellen. Trotzdem spricht manches dafür, dass die «Ampel» die Verhandlungen nicht übersteht: Man bricht eine Koalition, weil man sie brechen will. Einen Anlass findet man dann schon.
Vor allem für die FDP, die nach derzeitigem Umfragestand um ihren Platz im Bundestag bangen muss, stellt sich die Frage, was ihr mehr nützt oder schadet: Durchhalten oder die Koalition sprengen. Vielleicht belohnen die Wähler am Ende ja denjenigen, der das Land vorzeitig von der «Ampel» erlöst.
«Etwas Besseres als den Tod finden wir überall», sagen die Tiere im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten. Ähnlich mag es mancher deutsche Liberale nach drei Jahren Koalitionsregierung sehen.
(aargauerzeitung.ch)