In der deutschen Politik ist vieles im Fluss. Selbst dass ein amtierender Kanzler wenige Monate vor der Bundestagswahl von seiner Partei als Spitzenkandidat abgesägt wird, erschien eine Zeit lang nicht völlig ausgeschlossen, bis Boris Pistorius am Donnerstagabend endlich seinen Verzicht auf die Kanzlerkandidatur der SPD erklärte.
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor, mit dem alle rechneten, könnte sich derweil von selbst erledigen: das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Vor kurzem noch schien ausgemacht, dass die neue Partei in den nächsten Bundestag einziehen würde – und Mehrheitsbildungen weiter erschweren würde, denn auf Bundesebene will keine der etablierten Kräfte mit dem BSW zusammenarbeiten, gilt die neue Partei doch als kremlfreundlich.
Nun befindet sich das BSW in einer paradoxen Lage: In den ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Brandenburg wird es wohl – nicht einmal ein Jahr nach seiner Gründung – Teil der dortigen Landesregierungen werden. Gleichzeitig deuten bundesweite Umfragen darauf hin, dass die Wagenknecht-Partei den Einzug in den Bundestag verpassen könnte.
Dabei ist es gerade der Erfolg des BSW in den Ländern, der die Partei auf Bundesebene schwächt: Während Sahra Wagenknecht ein Protest- und Anti-Establishment-Kurs vorschwebt, wollen ihre Parteikollegen in Potsdam und Erfurt lieber mitregieren.
Der Konflikt schwelt seit den ostdeutschen Landtagswahlen im September. Wagenknecht machte zur Bedingung, dass sich künftige Regionalregierungen mit BSW-Beteiligung für einen kompromissbereiten Kurs gegenüber Russland einsetzen. Womöglich hoffte sie, durch diese Bedingung Regierungsbeteiligungen verhindern zu können.
In Sachsen ist ihr Obstruktionsversuch aufgegangen: Dort sind die Verhandlungen zwischen CDU, SPD und BSW bereits vor zwei Wochen gescheitert; nun werden Christdemokraten und Sozialdemokraten wohl eine Minderheitsregierung bilden. In Brandenburg dürften sich SPD und BSW dagegen nächste Woche auf eine Koalition einigen, und in Thüringen läuft es auf ein Bündnis von CDU, BSW und SPD hinaus.
In beiden Ländern scheint man sich auf Präambeln zum Koalitionsvertrag geeinigt zu haben, die Kompromissformeln über die aussenpolitische Positionierung der künftigen Landesregierungen enthalten. In Brandenburg lief dies relativ geräuschlos ab, stehen sich SPD und BSW doch in der Ukraine-Politik näher als CDU und BSW. Worauf sich die Parteien in Thüringen geeinigt haben, soll am Freitag bekannt werden; der dortige CDU-Chef und wahrscheinlich neuer Ministerpräsident Mario Voigt spricht von einem «recht friedlichen Papier».
Dass der Machtkampf zwischen Sahra Wagenknecht und der Thüringer BSW-Chefin Katja Wolf nicht offen ausbrach, dürfte der bevorstehenden Bundestagswahl geschuldet sein, vor der sich die Partei einen grossen Konflikt nicht leisten kann. Zeitweise verhandelte Wolf gegen Wagenknechts Willen mit der CDU, wobei sie die grosse Mehrheit der Thüringer BSW-Abgeordneten hinter sich wusste.
Wagenknecht soll derweil versucht haben, eigene Gefolgsleute in den Thüringer BSW-Verband aufzunehmen, um Wolfs Mehrheit zu brechen. Nun versucht die Parteichefin, ihr Gesicht zu wahren: Es sei ihrem Druck zu verdanken, dass man in Thüringen einen akzeptablen Kompromiss mit der CDU gefunden habe, sagt Wagenknecht. Dabei wolle sie «bis in die Halbsätze mitreden», schreibt die «Frankfurter Allgemeine Zeitung».
Ob der derzeitige Burgfriede im BSW lange anhält, ist fraglich. Sahra Wagenknecht und einige ihrer Kollegen kennen derartige Konflikte aus ihrer alten Partei, der Linken. Auch diese verlor an Anziehungskraft, je mehr Regierungsverantwortung sie in ostdeutschen Bundesländern übernahm und als Teil des Establishments wahrgenommen wurde.
So spricht manches dafür, dass das BSW in einen Fäulniszustand eingetreten sein könnte, bevor es überhaupt die politische Reife erreicht hat. Wagenknecht könnte sich dann auf die Felder zurückziehen, auf denen sie bisher schon reüssiert: Talkshows und den Buchmarkt. (aargauerzeitung.ch)
Das geht nur, wenn man mitregiert.
Und wenn man mitregiert, müssen Kompromisse her und schwupp, gehört man zum Establishment.
🤷
Pure Abneigung.