Zechentürme, Arbeitersiedlungen und vielspurige Autobahnen sieht vor dem inneren Auge, wer an Nordrhein-Westfalen denkt. Doch keine halbe Zugstunde östlich des Dortmunder Westfalenstadions beginnt schon das Sauerland, eine Mittelgebirgslandschaft, die in ihrer Schönheit, aber auch in ihrer Abgeschiedenheit und Düsterkeit an das Schweizer Jura erinnert.
Nadelwald, Stauseen und kleine Fabriken prägen das Bild. Als «Dolomiten der Niederlande» hat der Historiker Ulrich Raulff, ein Sohn der Gegend, das Sauerland ein wenig spöttisch bezeichnet: Schneller ist von Rotterdam oder Eindhoven kein Skigebiet mit dem Wohnwagen erreichbar.
«Wenn morgens früh die Sonne lacht, hat das die SPD gemacht», lautet ein alter Spruch, der den staubgeplagten Bergarbeitern des nahen Ruhrgebiets, die einst die gewerkschaftlichen Erholungsheime im «Land des grossen Durchatmens» (Raulff) bevölkerten, sofort eingeleuchtet haben muss.
Das katholische Sauerland aber ist eine christdemokratische Bastion. Friedrich Merz, der Chef der CDU, erhielt 2021 40 Prozent der Stimmen, als er sich um das Bundestagsmandat im Hochsauerlandkreis bewarb: ein Ergebnis, das anderswo in Deutschland kaum noch denkbar wäre.
Brilon, das 25'000-Einwohner-Städtchen, in dem Merz geboren wurde und aufgewachsen ist, liegt 450 Meter über dem Meeresspiegel. Fachwerk und Schieferdächer prägen das Stadtbild; lateinische Inschriften über manchen Giebeln künden von Feuersbrünsten, wundersamen Errettungen und dem segensreichen Wirken der Jungfrau Maria. Unter den Füssen der Passanten knirscht der Schnee.
Ein Angebot an Wirtshäusern und Beizen, wie man es so nur noch selten in deutschen Städten dieser Grösse findet, zeugt vom Wohlstand der Region, die durch zahlreiche «hidden champions» geprägt ist, kleine und mittelständische Betriebe, die oft in alle Welt exportieren.
Kalt ist es hier oben, aber zumindest an diesem Wochenende auch sonnig: Der Nebel bleibt in tieferen Lagen hängen. So liegt die St.-Hubertus-Schützenhalle, in die die örtlichen Christdemokraten zum Weisswurstfrühstück geladen haben, in gleissendem Licht da.
«Mehr Sauerland für Deutschland», verkünden die Wahlplakate, wobei «Sauerland» in diesem Fall «Merz» meint. Glaubt man den Umfragen, lief es für den CDU-Chef, als Redner die Hauptattraktion dieses Sonntags, schon einmal besser: Nur noch 29 Prozent sagt eine neue Umfrage der Union voraus; vor einigen Wochen waren es noch deutlich über 30.
Die Schützenvereine gelten im wald- und wildreichen Sauerland noch immer als Rückgrat des sozialen Lebens. In der St.-Hubertus-Halle künden Fotografien und Tafeln von den Schützenkönigen der vergangenen Jahrzehnte: «Stefan und Bettina Rosenbaum. Königspaar 1991-1992. Stadtkönigspaar 1991-1994. Kaiserpaar 1992-2017», heisst es dort etwa. Das Publikum ist von einer ethnischen Homogenität, wie man sie in Deutschland nur noch selten findet. Einen äusserlich erkennbaren Migrationshintergrund haben nur einige Mitarbeiter der Security.
Zwei Männer mit Hipsterbärten, beide CDU-Mitglieder und ungefähr 30-jährig, sitzen bei Weizenbier und Weisswürsten zusammen. «Unsere Namen lassen wir lieber weg», sagt einer von ihnen. «Merz wird auf jeden Fall Kanzler werden, wegen der schwachen Gegenkandidaten», erklärt der andere. «Aber er ist selbst auch schwach», wirft sein Kollege ein. «Am Ende wird er mit der SPD oder den Grünen regieren.»
Er selbst sei «für Schwarz-Blau», also eine Koalition von Union und AfD, sagt der Mann. «Oder wenigstens für eine Tolerierung durch die AfD», meint der andere. Viele hier im Saal sähen das wohl ähnlich, aber die schwiegen lieber. Auch im Sauerland gehe längst die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg um. «Und in den Städten fühlt man sich wie im Ausland», sagt sein Kollege. Ein Russlanddeutscher habe ihm erzählt, sein Sohn nehme kein Leberwurstbrot mehr in die Schule mit, weil er von muslimischen Schülern schikaniert worden sei.
Die Blasmusik-Kapelle intoniert den Bayrischen Defiliermarsch; Friedrich Merz und Markus Söder, der bayrische Ministerpräsident und Parteichef der Christsozialen, marschieren in die Halle ein. Es ist der einzige gemeinsame Auftritt ausserhalb Bayerns, den die Chefs der beiden Schwesterparteien in diesem Bundestagswahlkampf absolvieren.
«Wenn man als Bayer nach Nordrhein-Westfalen einreisen darf, dann hierher ins Sauerland», scherzt Söder zu Beginn seiner Rede. Der Unterschied zwischen Bayern und Norddeutschland, den er in heimischen Bierzelten gerne betont, muss hier einem Gegensatz von Berlin und Provinz weichen: «In jeder Kleinstadt gibt es mehr Verstand als im ganzen Regierungsviertel», ruft der CSU-Chef in die Halle.
Am Journalistentisch rollen einige angesichts solcher Worte mit den Augen, und als Söder den schlanken Vorsitzenden der lokalen CDU mit den Worten hochnimmt, dieser sei wohl auch so ein Körnerfresser, doch für ihn, Söder, sei ein Leben ohne Bratwürste nun einmal sinnlos, fragt eine sichtlich genervte Reporterin des Westdeutschen Rundfunks: «Ist das hier eine Karnevalsveranstaltung?»
Er wolle, dass Merz Kanzler werde, ruft Söder in die Halle, doch der grösseren Schwesterpartei gibt der Christsoziale auch den Tarif durch. «Ich weiss ja, dass ihr hier in Nordrhein-Westfalen gerne mit den Grünen regiert, aber ganz ehrlich: Ich bin davon kein Fan», sagt er.
Dass Söder nicht auch mit den Grünen koalieren würde, sollte er sie als Mehrheitsbeschaffer brauchen, dürfte ihm in der Halle allerdings kaum einer abnehmen. Den Widerspruch versucht er durch Selbstironie aufzulösen: Die bayrischen Herrscher seien Napoleon gefolgt, um zu Königen erhoben zu werden, und hätten sich gegen Napoleon erhoben, um Könige zu bleiben, scherzt er: Wendigkeit bleibt das Gebot der Stunde.
Söder redet etwa 30 Minuten; der Applaus wird im Stehen dargebracht, fällt aber kurz aus. Franz Josef Strauss, Söders Vorgänger als bayrischer Ministerpräsident und CSU-Chef, habe noch deutlich länger gesprochen, als er 1983 zu Gast in Brilon gewesen sei, erinnert sich ein älterer Zuhörer. Womöglich sei das Format der Bierzeltrede in einer Zeit, in der jeder permanent auf sein Smartphone blicke, aber auch überholt.
Merz ist von anderem Temperament als Söder. Seine Rede beginnt zwar auch er volkstümlich: Er habe hier viele Schützenfeiern erlebt, an deren Anfang er sich besser erinnern könne als an ihr Ende. Doch dann ist Schluss mit lustig: Worte wie «Trump», «Europa» und «China» schwirren durch die Halle; der kalte Hauch der Weltpolitik weht durch den Saal.
Merz, das deutet der Kanzlerkandidat an, fühlt sich in den Konferenzräumen von Brüssel mindestens so zu Hause wie auf einem Sauerländer Schützenfest. Kanzler Scholz schildert er wie einen verstockten Schulbuben, der im Kreis der europäischen Regierungschefs mit verschränkten Armen dasitze und nichts sage. Robert Habeck, der grüne Vizekanzler, schwänze die meisten EU-Konferenzen.
Als er Weltpolitik und lokales Geschehen miteinander verbindet, gelingt Merz, der vielen in Deutschland als kalter Technokrat gilt, ein anrührender Moment: Nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl seien Menschen aus der Ukraine nach Brilon gekommen, um sich in der guten Luft des Sauerlands zu erholen. Kürzlich habe er eine Frau getroffen, die nun, rund 30 Jahre später, zum zweiten Mal hier sei, dieses Mal als Kriegsflüchtling.
Die beiden Reden deuten eine Rollenverteilung zwischen den Chefs der Schwesterparteien an: Söder überlässt Merz die Rolle des Staatsmannes und zieht sich selbst auf jene des Bajazzo zurück. Zumindest vorerst scheint der Bayer zu akzeptieren, dass sein westfälischer Rivale die Nummer eins in der Union ist. Ob dies so bleibt, dürfte von dem Ergebnis abhängen, das Merz bei der Wahl Ende Februar erhält.
Als der CDU-Chef sein Mantra wiederholt, unter seiner Führung werde es niemals eine Zusammenarbeit mit der AfD geben, klatscht zwar eine Mehrheit der Zuhörer, doch viele Hände bleiben auch am Bierglas.
Ernster als Merz' Rede an diesem Tag kann eine Ansprache kaum enden: Gelinge es nun nicht, Deutschland aus der Krise zu führen, werde man 2029 vor einer ähnlichen Situation wie in Österreich stehen, wo die Rechtsradikalen die Macht übernähmen. «Und die nächste Wahl ist dann 2033», ruft Merz. «Und einmal 33 reicht in Deutschland!»
Der strahlende Sonnenschein vor der Halle bildet einen merklichen Kontrast zum düsteren Ende der Rede, doch die Stimmung unter den Zuhörern bleibt auch draussen nachdenklich. Merz sei sicher der Richtige, sagt eine junge Frau, doch ob er in einer Koalition viel bewegen könne? Sie sei eher pessimistisch. Ihr Ehemann nickt.
Ulrich Raulff, der Sauerländer Autor, bescheinigt seinen Landsleuten «die Gabe des zweiten Gesichts»: «Sie spüren, was in der Luft liegt», schreibt er. «Wie der Bauer, der weiss, wenn er heute mäht, kommt morgen der Regen.» Derzeit ist die Stimmung im Sauerland eher gedrückt. (aargauerzeitung.ch)
Kann man natürlich machen, ist aber nicht wirklich vereinbar mit unserem Demokratieverständnis. Was die AfD als Partei angeht: Es liegt an allen etablierten Kräften, das "System" Demokratiekonform zu gestalten. So etwas wie eine AfD, Linke, BSW, müssen wir aushalten können.
Diese Brandmauer ist ein antidemokratisches Konstrukt. Alle Parteien wollen auf ihre Weise das Beste fürs Land. Sich gegenseitig vorzuwerfen man schadet diesem ist müssig und unehrlich.