An seiner Schuld gibt es keinen Zweifel: Vadim K. erschoss 2019 im Berliner Tiergarten den Georgier Tornike K. mit einer Schalldämpfer-Pistole. Zwei Schüsse in den Rücken, einen in den Hinterkopf. Mehr als zwei Jahre nach der Tat hat das Berliner Kammergericht nun das Urteil gegen den 56-jährigen Russen verkündet: lebenslange Haft wegen Mordes.
Schuldspruch und Strafmass sind keine Überraschung, trotzdem bietet das Urteil viel diplomatischen Sprengstoff. Denn das Gericht sieht es als erwiesen an: Vadim K. handelte nicht nur besonders heimtückisch, sondern hinter der Tat steckte auch eine politische Motivation. Er war ein russischer Geheimagent, der Mord war ein Auftrag des Kremls.
Das dreiste Verbrechen sorgt für die nächste Krise in den ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und Russland – und ist eine Ohrfeige des russischen Präsidenten Wladimir Putin für einen europäischen Rechtsstaat. Für die neue Bundesregierung ist es die erste grosse aussenpolitische Bewährungsprobe, ein Prüfstein für die angestrebte «wertegeleitete Aussenpolitik» der Ampelkoalition.
Der Druck auf die deutsche Politik wird nach dem Urteil grösser. Der Tiergarten-Mord ist nur ein Beispiel dafür, wie Putin gegen Menschen vorgehen lässt, die er als Staatsfeinde sieht.
Erst im Jahr 2018 war der ehemalige russische Agent Sergei Skripal in Grossbritannien vergiftet worden, laut der britischen Regierung mit «hoher Wahrscheinlichkeit» auf Geheiss des Kremls. Sanktionen gegen Russland und eine Eiszeit in den britisch-russischen Beziehungen waren die Folge.
Ein Jahr später starb Tornike K. im Herzen der deutschen Hauptstadt. Das Opfer wurde insbesondere deshalb als Staatsfeind betrachtet, weil er im Tschetschenien-Krieg gegen Russland gekämpft hatte. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte den ermordeten Georgier nach der Tat als «Banditen» und «Mörder» bezeichnet. Er sei an dem Anschlag auf die Metro in Moskau im Jahr 2010 beteiligt gewesen. Beweise dafür legte die russische Regierung nicht vor.
Doch die Vorwürfe des Berliner Gerichts in der Urteilsbegründung sind umfangreich: So schickte der Kreml offenbar einen Offizier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB mit einer Scheinidentität nach Berlin. Ihm werden auch andere Auftragsmorde im Ausland zugeordnet, doch seine genaue Identität ist unklar. Vor Gericht liess er lediglich über Anwälte erklären: Er heisse Vadim K., sei 50 Jahre alt und Bauingenieur.
Putin streitet eine Beteiligung an dem Mord in Deutschland ab. Aus Moskau gab es bislang keine Reaktion auf das Urteil, lediglich der russische Botschafter in Deutschland bezeichnete das Urteil als «politisch motiviert». Auch Moskau verkaufte den Prozess stets als Hetzkampagne gegen Russland. Tornike K. sei laut dem russischen Präsidenten Opfer des kriminellen Milieus geworden, in dem er sich als «Terrorist» ohnehin bewegt habe.
Die Verteidigung unternahm vor allem den Versuch, die politische Motivation hinter der Tat anzufechten. Das ist gescheitert: Nach Überzeugung der Richter wurde das Verbrechen «akribisch» durch in Berlin stationierte Helfer vorbereitet. Diese hätten das Opfer zuvor ausgespäht und dem Angeklagten das Fahrrad sowie Ersatzkleidung für die Flucht besorgt, sagte der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi in der Urteilsbegründung.
Die Pistole habe Vadim K. wahrscheinlich ebenfalls erst in Berlin erhalten. Zuvor war er Feststellungen des Gerichts zufolge von Moskau aus über Paris und Warschau in die Hauptstadt gereist. Sein Aufenthalt in Berlin sei hochkonspirativ gewesen. Wo er sich aufgehalten habe, sei unklar.
Schnell nach der Verhaftung von Vadim K. herrschte in Deutschland in aussen- und sicherheitspolitischen Kreisen im Prinzip Sicherheit darüber, dass die russische Regierung wahrscheinlich in den Mord verstrickt ist. Trotzdem gibt es nun die Gewissheit durch ein Gericht, und das erhöht den Handlungsdruck auf die Politik und die neue Bundesregierung. Immerhin ist das Urteil der Beweis für die Verletzung der Souveränität der Bundesrepublik durch Russland.
Schon im Jahr 2019 hatte der Fall die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland schwer belastet. Damals warf der ehemalige Aussenminister Heiko Maas (SPD) der russischen Regierung vor, die Ermittlungen nicht zu unterstützen. Die Bundesregierung liess russische Diplomaten ausweisen, Moskau reagierte seinerseits mit der Ausweisung deutscher Diplomaten.
Das Urteil dürfte nun jedoch zu noch tieferen Verwerfungen zwischen beiden Ländern führen. Das Urteil kommt in einer Zeit, in der ohnehin die deutsch-russischen Beziehungen immer weiter in die Krise rutschen.
Die Liste der aktuellen deutsch-russischen Konflikte ist lang:
Von Russland angeordnete Auftragsmorde auf europäischem Boden sind der Tropfen, der das Fass fast zum Überlaufen bringt. Fest steht: In den vergangenen Jahren haben sich die Fronten in den Beziehungen zwischen EU und Russland in vielen Fragen immer weiter verhärtet. Es ist besorgniserregend, dass auf der anderen Seite der Dialog eher abnimmt – zum Beispiel schlägt der Kreml Gesprächsangebote des Westens im Ukraine-Konflikt momentan aus.
Das Urteil im Tiergarten-Prozess könnte die deutsch-russischen Beziehungen kurz nach dem Amtsantritt von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nun weiter erschüttern. Die Bundesregierung wollte zunächst keinen Kommentar abgegeben. Die Entscheidung sei erst wenige Minuten alt, zudem kenne er die Begründung noch nicht, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Mittag. «Und insofern ist es noch zu früh für eine Reaktion der Bundesregierung.»
Wie eine «wertegeleitete Aussenpolitik», die die Ampelparteien in ihrem Koalitionsvertrag verankert haben, in so einem Fall aussieht, muss sich jetzt zeigen. Doch Einigkeit und ein Kurs in der Russland-Politik müssen von der neuen Regierung erst noch gefunden werden, so scheint es. Scholz agiert bislang sehr vorsichtig, setzt kommunikativ eher auf Dialog als auf Konfrontation. Die grüne Aussenministerin Annalena Baerbock forderte dagegen schon vor dem Urteil einen härteren Kurs gegenüber Putin. Das Urteil im Tiergarten-Mord könnte ihr nun politischen Rückhalt in der Frage geben.
Auch der aussenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Nils Schmid, sprach sich nach der Urteilsverkündung für eine deutliche Reaktion der Bundesregierung gegenüber der russischen Führung aus. «Es ist jetzt die Aufgabe der Bundesregierung, darüber zu entscheiden, wie darauf in angemessener Form zu reagieren ist», sagte Schmid gegenüber t-online. Durch das Urteil sei klar, dass «die politische Verantwortung» in Moskau liege.
Doch welche Optionen hat die Bundesregierung eigentlich?
Letztlich scheint Scholz es unbedingt vermeiden zu wollen, überstürzt zu reagieren – und handelt damit eher in der Tradition seiner Vorgängerin Angela Merkel . Es ist wahrscheinlich, dass der Kanzler jetzt Massnahmen sorgfältig abwägt und zunächst europäische Partner konsultiert.
Untätig kann die Bundesregierung nach dem Urteil jedoch eigentlich nicht bleiben, ohne das Prinzip der «wertegeleiteten Aussenpolitik» zu beerdigen. Es geht nun schliesslich um eine Verletzung der eigenen Souveränität durch einen anderen Staat, um einen staatlich angeordneten Mord auf deutschem Boden. Scholz sprach sich in seiner Regierungserklärung am Mittwoch im Bundestag für eine «selbstbewusste und engagierte» Aussenpolitik aus. Seine Reaktion gegenüber Russland wird daran gemessen werden.