Der Berliner Intensivpfleger Ricardo Lange ist in der Corona-Pandemie zum Gesicht des Pflegepersonals geworden: Der Intensivpfleger brennt für den Beruf und spricht unverblümt Klartext – ob bei Markus Lanz oder neben Jens Spahn in der deutschen Bundespressekonferenz.
Lange geniesst Vertrauen, und das sollte offenbar missbraucht werden. Eine Fake-Geschichte dreht nur deshalb keine grossen Kreise, weil der Pfleger auch ein gutes Auge für Autos hat.
Lange – mit mehr als 50'000 Followern auf Twitter – hatte einen Brief gepostet, der ihn fassungslos gemacht hatte. Das Schreiben ist auch in einem Artikel auf focus.de zu finden: «Corona-Leugner zerstechen Reifen von Pflegerinnen und schreiben unfassbaren Zettel» meldete die Seite, obwohl Lange sein Posting längst gelöscht und einen Hinweis gepostet hatte. Erst nach Stunden wurde der Artikel geändert.
Der Zettel ist tatsächlich unfassbar und empörend – aber es spricht viel dafür, das an der Geschichte nichts stimmt. Entweder sollte Lange ein Fake untergeschoben werden, um ihn danach damit zu diskreditieren – oder es war der Versuch, noch mehr Öl ins Feuer in der hitzigen Corona-Debatte zu giessen. «Da wird guter Glaube von Menschen ausgenutzt, um Unruhe zu stiften», sagte er t-online.
Was Ricardo Lange geteilt und zuvor per Facebook Messenger geschickt bekommen hatte, kann er sich grundsätzlich vorstellen. «Ja, leider. Es kommen Drohungen und Beleidigungen gegen medizinisches Personal, ich weiss von einer Kollegin, die öffentlich fürs Impfen wirbt und der zuhause das Auto zerkratzt wurde.» Auf Gesundheitsämter und Impfzentren hat es auch bereits Anschläge gegeben.
Deshalb glaubte er zunächst, was ihm Facebook-Abonnentin Mara Schmidt (Name geändert) schickte. «Sie hatte mir schon ein paar Mal freundlich geschrieben, dass sie gut findet, was ich mache.» Das Profil teilt Impfaufrufe, die Person ist auch Fan diverser Seiten von Krankenhäusern und Hilfsdiensten.
Diesmal klagte die Frau mit dem Profilbild einer attraktiven, blonden Frau und der Berufsangabe Fachkrankenschwester für Intensiv und Anästhesie ihr Leid: Mit einer Kollegin kam sie demnach völlig erschöpft von der Nachtschicht in Würzburg zu den Autos – und fand die Reifen zerstochen vor. Und am Scheibenwischer den handgeschriebenen Brief.
Er hat es in sich – Hass. Häme, Schadenfreude. «Jetzt seht ihr mal was passiert, wenn ihr unschuldige Bürger zum Impfen auffordert!», heisst es dort. Und: «Jammert nicht, dass ihr zu schlecht bezahlt werdet, selber Schuld! Probiert's mal mit einem anderen Beruf.»
Mara Schmidt gab sich aber kämpferisch: Sie lasse sich nicht abschrecken von ihrer Arbeit an vorderster Front, schrieb sie dazu. «Wir halten zusammen und Du (der Täter oder die Täterin, Anm. d. Red.) tust einem einfach nur leid, Du armes Würstchen.»
«Was sagt die Polizei?», fragte Lange zurück. Und bekam darauf von ihr noch ein Foto eines Autos mit zerstochenen Reifen. «Meins.»
Das Foto wurde ihr zum Verhängnis. Lange hatte den Tweet schon abgeschickt, Menschen regten sich schon auf über die neue Eskalation durch Impfgegner, der Tweet hatte Tausende Likes. Da erkannte Lange das Reifenmodell auf dem Foto in der Nachricht. Vredestein, Sommerreifen, und das Foto sehr professionell. Das ist auch nicht verwunderlich: Es stammt von der Fotoagentur Imago und ist auf zahlreichen Seiten zu finden. Mara Schmidt hat das Foto nicht gemacht.
Scheinbar wurde ich getäuscht. Leider gibt es auf beiden „Seiten“ Menschen, die für Aufmerksamkeit oder Mitleid keine Grenzen kennen. Kann man nichts und niemandem mehr glauben? Offensichtlich nicht!Spalter und Lügner sind bei mir falsch. Leider ist mir das zu spät aufgefallen pic.twitter.com/HasWgKSoCI— Ricardo Lange (@RicardoLange4) December 31, 2021
Doch nicht nur das: Auch ihre Profilbilder stammen aus Fotodatenbanken für Werbefotografie. Die vermeintliche Würzburger Krankenschwester auf einem Foto ist eine in den USA fotografierte Frau für Bilder zum Thema Ärzte. Fotos, auf denen in zwei verschiedenen Mercedes und einem Audi Händchen gehalten werden – auch sie sind im Netz zu finden.
Ricardo Lange blockte Mara Schmidt – und bekam Nachricht von ihrer angeblichen Schwester. Es sei kein Fake, das Foto des Reifens habe Mara nur gepostet, weil ihr Mann Polizist sei und das geraten habe. Als dann t-online bei Schmidt und der «Schwester» nachfragte, beklagten sie sich, nun werde die Presse auf sie gehetzt. Der t-online-Reporter wurde von der Schwester geblockt, Mara Schmidt antwortete nicht.
Aber wenn es den Fall doch gegeben hat und Mara Schmidt einfach nur sehr konsequent ihre Identität schützt? «Bei uns ist der Vorgang bisher nicht bekannt», teilte die Polizei Würzburg auf Anfrage mit. «Wenn das angezeigt worden wäre, wüssten wir davon.»
Ricardo Lange findet es «erschreckend, wie leicht man an eine emotionale erfundene Geschichte glaubt und wie schnell man dann bereit ist, sie zu teilen. Aber wer vermutet denn auch, dass sich so was jemand ausdenkt?»
Merkel hatte im Nachhinein schon recht mit dem "Neuland".
Medienkompetenzkurse sollten ab einer bestimmten Anzahl Follower Pflicht sein!