Jens Spahn will nichts zu verbergen haben. Als er im Bundestag vor Journalisten steht und nach dem Masken-Bericht gefragt wird, der ihn seit Tagen unter Druck setzt und der nun öffentlich ist, tut er fast so, als sei das alles der angenehmste Teil seiner Woche.
«Ich bin froh, dass der Bericht – der Text – von Frau Sudhoff nun gelesen werden kann», sagt Spahn, heute Unions-Fraktionschef, in der Corona-Pandemie Bundesgesundheitsminister. Es sei wohl eher die «vermeintliche Geheimhaltung» gewesen, die die Debatte darum befördert habe.
Es ist eine interessante Bewertung der Ereignisse. Der Sudhof-Bericht ist im Sommer 2024 vom damaligen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in Auftrag gegeben worden. Die frühere Staatssekretärin Margaretha Sudhof, die SPD-Mitglied ist, sollte als «Sachverständige Beraterin» die Maskenbeschaffung seines Vorgängers aufarbeiten. Das Ergebnis stiess bei Spahns CDU-Parteifreundin und Neu-Gesundheitsministerin Nina Warken allerdings offenbar auf wenig Begeisterung.
Die als «Verschlusssache» klassifizierte interne Aufarbeitung der Maskenbeschaffung wollte Warken nicht veröffentlichen. Stattdessen sollte der Sudhof-Bericht nur in einen eigenen, neuen Bericht des Ministeriums «einfliessen». Daran hielt Warken lange fest, obwohl der Druck wuchs. Teile des Berichts wurden öffentlich, weil Medien wie die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (FAZ) recherchierten. Schliesslich knickte Warken ein: Am Dienstagvormittag ging das Dokument mit Teilschwärzungen per Mail an die Mitglieder des Haushaltsausschusses im Bundestag.
Inzwischen kann jeder das Dokument lesen. Was steht drin?
Dabei könnten die Vorwürfe gegen den ehemaligen Minister Spahn kaum verheerender sein. «Fehlendes ökonomisches Verständnis» und «politischer Ehrgeiz» hätten dazu geführt, dass dem Bund «erhebliche Kosten und Risiken» entstanden seien, heisst es im Bericht. Von einem «Drama in Milliardenhöhe» ist die Rede. «Gegen den Rat seiner Fachabteilungen» sei Spahn damals in grossem Umfang in die Maskenbeschaffung eingestiegen.
Wie sich das genau abgespielt haben soll, ist im Bericht detailliert zu lesen.
Der Corona-Krisenstab hatte Anfang März 2020 entschieden, dass die Beschaffungsämter des Bundes die Schutzausrüstung organisieren sollten – der «funktionierenden Bundesverwaltung» und den Beschaffungsbehörden habe Spahn aber nicht vertraut. Deswegen habe er parallel «Interessenten auf Anbieterseite angeschrieben und sie zu Angeboten (...) aufgefordert».
Noch am selben Tag habe er den zuständigen Abteilungsleiter telefonisch informiert, «dass das [Ministerium] 'ab sofort' Persönliche Schutzausrüstung auch selbst kauft; er bat um fachliche Prüfung der von ihm eingeholten Angebote». Der Schritt habe selbst sein eigenes Ministerium überrascht.
Und dann startete die Direktbeschaffung: Binnen zwei Wochen schloss das Ministerium laut Sudhof-Bericht auf Weisung Spahns über 48 Verträge mit einem Gesamtvolumen von mehr als zwei Milliarden Euro ab.
«Mangels administrativer Ausstattung und operativer Vorerfahrung» sei das in Spahns Ministerium tätige Team allerdings «völlig überfordert» mit den Plänen des Ministers gewesen.
«Die Fachebene des BMG (Bundesgesundheitsministeriums) versuchte durchaus, den Bundesminister davon zu überzeugen, dass mangels Expertise und Personal die Beschaffung nicht ins Haus geholt, sondern bei den Beschaffungsbehörden verbleiben sollte», schreibt Sudhof. «Dies jedoch vergeblich. Der damalige Bundesminister intervenierte immer wieder persönlich und nutzte seine Kontakte.»
Also habe man schliesslich eine Beratungsgesellschaft beauftragt. An den Berater sei die Beschaffung dann quasi komplett «outgesourct» worden. Es habe demnach «keine bedarfsgerechte Steuerung» mehr durch das Ministerium gegeben.
«In der Folge wurde über den im Krisenstab festgelegten Bedarf hinaus beschafft», hält der Bericht fest. Als sich «Worst-Case-Betrachtungen» bewahrheitet hätten, sei im Bund vorhandene Expertise weiter nicht geholt, sondern weiter auf externe Berater und Kanzleien vertraut worden. Dies verursacht wohl bis heute Schwierigkeiten bei der Prozessführung in zahlreichen Rechtsstreitigkeiten mit Lieferanten, die nicht bezahlt wurden.
Im März 2020 gab es nach Einschätzung der Bundesregierung eine «besorgniserregende» Entwicklung, was die Versorgung mit Corona-Schutzausstattung angeht. Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn entschied sich zu diesem Zeitpunkt – über die Direktbeschaffung hinaus –, zusätzlich ein sogenanntes Open-House-Verfahren ins Leben zu rufen. Dieses Verfahren unterscheidet sich von den üblichen Vorgehensweisen, weil es kein Ausschreibungsverfahren gibt. Jeder Anbieter, der, in dem damaligen Fall, Masken liefern kann, bekommt den Zuschlag und auch einen gesicherten Preis für die Masken.
Der CDU-Politiker hatte 2020 zu Beginn der Pandemie Lieferanten eine unbegrenzte Abnahme von Masken zu einem Preis von 4.50 Euro pro FFP2-Maske garantiert. Dieses sogenannte Open-House-Verfahren führte «zu einer Angebotsschwemme», heisst es im Sudhof-Bericht. Zum anderen entsprach der Preis von 4.50 Euro nicht dem damaligen Marktpreis. Aus dem Bericht geht hervor, dass der «Durchschnittspreis für FFP2 durchschnittlich 2,83 (netto)» betrug. Die Fachebene im Ministerium wollte den Ländern einen «Abgabepreis von 2,50 EUR (netto)» anbieten. Auch 2.90 Euro seien im Gespräch gewesen, weil dieser «überdurchschnittliche Stückpreis attraktiv sein müsste.»
Doch es kam alles anders. In einem Gespräch mit dem Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium entschied sich Spahn für einen deutlich höheren Preis. So schreibt der Abteilungsleiter: «Guten Morgen, nach Entscheidung des Ministers jetzt bitte wie folgt finalisieren: 4,50 EUR (netto) und bis zum 30.04.2020.» Spahn hob den Preis also eigenmächtig um mehr als die Hälfte an.
Ausserdem bestand ein grosses Problem in der Vertragsgestaltung des Open-House-Verfahrens. So wurde die Versendung der Vertragsunterlagen zunächst gestoppt. Grund laut Sudhof-Bericht ist, dass «die Vertragsunterlagen derart ausgestaltet sind, dass vor Ablieferung der Ware keine Qualitätsüberprüfung stattfindet». Es mussten theoretisch auch minderwertige Masken abgenommen werden.
Später verweigerte das Ministerium teils die Bezahlung, unter anderem mit Verweis auf fehlerhafte oder verspätete Lieferungen. Und das, obwohl die mit dem Open-House-Verfahren betraute Kanzlei ausdrücklich vor einem «Aufnahmestopp» warnte. Die könne laut Bericht zu massiven Problemen führen. Und tatsächlich: Lieferanten klagten deshalb in den vergangenen Jahren gegen den Bund. Dabei geht es um Hunderte Fälle mit einem Streitwert von 2,3 Milliarden Euro. Insgesamt liess das Gesundheitsministerium Masken im Wert von knapp sechs Milliarden Euro kaufen, von denen rund zwei Drittel nie gebraucht wurden.
Zu diesen persönlichen Kontakten, die Jens Spahn nutzte, gehörte auch der Geschäftsführer des Unternehmens Fiege aus einem benachbarten Wahlkreis von Spahn. Dieser gehörte damals auch dem Wirtschaftsrat der CDU an. Der Ex-Minister war laut dem Bericht der Sachverständigen Sudhof überzeugt, dass es mit der Maskenbeschaffung «auf den herkömmlichen Wegen und mit den eingefahrenen Verantwortlichkeiten nichts werden würde.» Sein Bekannter Hugo Fiege sollte also helfen. Der Auftrag hatte demnach ein Volumen von 1,5 Milliarden Euro.
Die Auftragsvergabe sei erfolgt, obwohl das eigentlich zuständige Bundesinnenministerium vor der Beauftragung von Fiege gewarnt habe, heisst es im Sudhof-Bericht. Auch im Corona-Krisenstab der Regierung habe es Widerstände gegeben, über die sich Spahn hinweggesetzt haben soll. Denn das Unternehmen war bald mit dem Auftrag überfordert. Und bei Regressforderungen gegen Fiege soll sich das Gesundheitsministerium später zurückgehalten haben.
Das inzwischen wieder von Spahns CDU geführte Gesundheitsministerium verschickte am Dienstagmorgen allerdings nicht nur den Sudhof-Bericht selbst. Das Haus von Ministerin und Parteifreundin Nina Warken lieferte auch eine eigene Interpretation des Dokuments mit. Was in diesem Fall bedeutet: Es widerspricht Sudhof auf 16 Seiten grundsätzlich.
«Es werden teilweise Tatsachen vorgetragen, die durch Quellen nicht untermauert sind», heisst es dort etwa. Es könne nicht nachvollzogen werden, mit welchen Personen Sudhof gesprochen habe und welche Dokumente gesichtet worden seien. Kritisiert wird ausserdem, dass Spahn «nie befragt worden sein soll». Schon auf Seite drei distanziert sich das BMG, also das Bundesgesundheitsministerium, komplett vom Text: «Das BMG macht sich die Aussagen der 'Sachverständigen Beraterin' nicht zu eigen.»
Die Grünen bewerten das als Versuch, die enthaltenen Vorwürfe gegen Spahn zu entwerten. Sie verweisen darauf, dass das Ministerium zum Teil angegebene Quellen im Bericht geschwärzt habe – und selbst keine nenne.
Die Schwärzungen sind ohnehin ein Grund für Kritik der Opposition. Allerdings sind sie bei derartigen Veröffentlichungen durchaus üblich, um etwa Geschäftsgeheimnisse und Quellen zu schützen. Nur liegt es in der Natur von Schwärzungen, dass nicht hundertprozentig nachvollziehbar ist, ob auch wirklich nur solche Informationen geschwärzt wurden.
Zusätzliche Zweifel daran, wie komplett der Sudhof-Bericht wirklich vorliegt, gibt es nun erneut durch journalistische Recherchen. NDR, WDR und «Süddeutsche Zeitung» haben die jetzt vom Gesundheitsministerium verschickte Version mit Auszügen aus dem Bericht verglichen, die sie vorab zugespielt bekommen hatten.
Ursprünglich hiess es demnach im Bericht etwa: «Wiederholt wurde das Team sinngemäss begrüsst mit dem Satz, dass man sich darüber wundere, warum erst jetzt jemand vom BMG erscheint und nachfragt.» Dieser Satz fehle nun. Auch dass es «offenkundig» gewesen sei, dass das Gesundheitsministerium nicht imstande war, die Schutzausrüstung zu verteilen, stehe nicht mehr in der nun öffentlichen Version des Berichts.
OK, fairerweise halber muss man auch erwähnen, dass auch SP-Männer nie zur Rechenschaft gezogen werden. Man kann Hauptverantwortlicher in der Cum Ex-Affaire sein und wird trotzdem Bundeskanzler. Oder umgekehrt als Ex-Bundeskanzler wird man zum Aufsichtsratsvorsitzenden von Gazprom. Ohne Konsequenzen.