«Hier können Sie nicht durch!» Der Feuerwehrmann, von der Lahn zum Einsatz an die Ahr nach Sinzig gekommen, ist unerbittlich zu dem älteren Herren, obwohl der inständig bittet. «Glauben Sie, es auch für Sie besser so!» Kein Durchkommen durch die Strasse, die dann nach einer Rechtskurve zum Gelände der Lebenshilfe führt.
Auf der Strasse steht brauner Matsch knöchelhoch und vor dem Hauptgebäude der Lebenshilfe ein verschlammtes und verkratztes Auto quer mit dem Heck in einer Gartenhecke. Auf dem tiefergelegenen Parkplatz stehen Kleinbusse mit Lebenshilfe-Aufschrift in der Brühe. An dem Gebäude zeigt eine braune Fläche an der weissen Wand, wie hoch das Wasser stand. Bis deutlich über die Fenster im Erdgeschoss, fast bis zur Decke.
Hinter den Wänden sind viele Menschen mit geistiger Behinderung gestorben, von neun spricht der der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz am späten Donnerstagabend. Am Freitagmorgen wird klar, dass es noch schlimme rgekommen ist: Es gibt zwölf Tote, Am Freitagmorgen spricht Stefan Möller, Geschäftsführer der Lebenshilfe, von zwölf Toten, drei weitere Menschen sind tot geborgen worden. In der Flut von Schreckensnachrichten zum Hochwasser ist das eine, die viele Menschen besonders erschüttert: Hilfebedürftige Menschen, die in grosser Zahl gestorben sind.
Der ältere Herr weiss, dass seine Tochter lebt, und er wollte durch die Absperrung, um sie in die Arme zu schliessen. Er hat die Information schon am Morgen bekommen von einer Betreuerin am Handy – übers Festnetz ging ja nichts. Ein Mitarbeiter hat mit Mary, mit Marys Freundin Carola aus dem Erdgeschoss und zwei weiteren Bewohnern die Nacht und den Tag im Obergeschoss verbracht hat. Und Marys Vater will sie sehen. «Das Kind wird mir in den Arm springen!»
Zu dem Lebenshilfehaus führt noch eine andere Strasse, aber auf der steht das Wasser. Hier ist eine Feuerwehr vom Rhein aus dem Nachbarkreis Neuwied mit zwei flachen Booten im Einsatz. Marys Vater hatte gefragt, ob sie ihn nicht mitnehmen könnten zu seiner Tochter.
Es ist Nachmittag, er ist seit dem Morgen da, hat nichts gegessen und nichts getrunken. Er war am Vorabend unterwegs im Auto heim ins 20 Kilometer entfernte Andernach , als es so stark regnete. «Als würde man eimerweise das Wasser auf die Windschutzscheibe kippen. Ich dachte schon, dass das Hochwasser heftig wird.»
Aber doch nicht daran, dass es Mary in Gefahr bringen könnte, die auf dem Gelände der Lebenshilfe wohnt, hinter dem Hauptgebäude in einer Doppelhaushälfte. Hätte irgendwer absehen können, dass das Wasser hier den Tod bringt?
Die Menschen, die hier in der Strasse Matsch wegschieben, schlammige Möbel auf Anhänger laden und sich erzählen, wann die Deponie geöffnet hat, stellen sich diese Frage nicht. Die Flut hat sie überrascht. Der Pegel war doppelt so hoch wie der letzte aufgezeichnete Rekord.
Als die Welle in Sinzig gegen Mitternacht ankam, war der Notruf schon von den Anrufern stromaufwärts überlastet, schrieben Menschen verzweifelt auf Facebook, dass sie auf Hausdächern auf Rettung warten. Um 23.33 Uhr hatte der Kreis den Katastrophenfall ausgerufen mit der Massgabe, in Bad Neuenahr-Ahrweiler und Sinzig alle Gebäude im Umkreis von 50 Metern rechts und links der Ahr zu evakuieren. Das Doppelhaus, in dem Mary und Carola wohnten, ist Luftlinie 200 Meter entfernt, das Haupthaus noch weiter.
Die Feuerwehrleute mit dem Boot hatten Marys Vater nicht mitnehmen können, sie sind in die Strasse Richtung Lebenshilfehaus gefahren. Deshalb wollte er ans andere Ende, wo wieder kein Durchkommen war. In die nahegelegen Schule solle er, da würde alles für die Angehörigen vorbereitet.
Wer in dem Schulgebäude den DRK-Kräften seinen Namen sagt und durchgelassen wird, über den bricht der volle Schrecken herein. In der Schule sind zwei Notfallseelsorger darauf eingestellt, Angehörigen nach der Todesnachricht beizustehen. Während hier Menschen weinend das Gebäude verlassen, gibt es zu dieser Zeit von der Polizei noch keine Bestätigung, dass bei der Lebenshilfe Menschen gestorben sind.
Marys Vater wird an der Schule weitergeschickt, an der Barbarossa-Statue und der Kirche vorbei durch den verkehrsberuhigten Stadtkern zum zweiten Standort der Lebenshilfe am Kaiserplatz: Mary werde dorthin gebracht. Er will sein Glück dort versuchen.
Kurz nach ihm geht die Cousine von Marys Freundin Carola an der Schule vorbei. Carola ist jedes zweite Wochenende bei ihr, «ich bin die nächste Angehörige, die sie hat, wir wollen auch im August zusammen in den Urlaub», sagt die Frau, zugleich auch gesetzliche Betreuerin von Carola. Sie hat sich ausgemalt, wie es Carola ergangen ist. «Sie hat grosse Angst vor dem Wasser, die geht auch nicht in einen Pool.»
Im Essensraum der Lebenshilfe am Kaiserplatz kommt es zum ersehnten Wiedersehen. Carola lässt ein Pizzastück fallen und springt auf, als ihre Cousine in den Raum kommt. Sie drücken sich fest, mehrfach. Dann kommt Carola aber doch sofort aufs Thema. Ein Feuerwehrmann habe sie huckepack nehmen wollen, «beinahe wäre ich ins Wasser gefallen.»
Und das Wasser, «das ist in der Nacht über uns gekommen.» Sie erzählt von einem Alarm im Haupthaus. «Dann sind viele in die obere Etage hochgegangen.» Aber eben nicht alle. «Es sind so viele tot.»
Anderthalb Stunden später fährt die Feuerwehr mit den beiden Booten auf Anhängern aus der Strasse vom Lebenshilfehaus. Kurze Zeit später kommt die offizielle Bestätigung von der Polizei: In Sinzig gab es eine Tragödie.
Allen Hinterbliebenen von Opfern dieser Katastrophe mein aufrichtiges Beileid und all jenen, die noch Angehörige oder Freunde vermissen, viel Kraft und Zuversicht.
Ein grosses Dankeschön an alle, die in diesen schlimmen Zeiten helfen, retten, unterstützen. Tragt euch Sorge!
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