Sie erklärt, warum auch «Militärexperten» bei der ukrainischen Gegenoffensive falschliegen
Wenn du über das Kriegsgeschehen in der Ukraine aktuell und umfassend informiert sein willst, führt kein Weg am Institute for the Study of War (ISW) vorbei.
Die täglichen Lageberichte des ISW gehören für journalistische Berichterstatter seit Beginn der russischen Invasion zur Pflichtlektüre, sie werden aber auch in Geheimdienst- und Regierungskreisen genaustens studiert.
Einer der schlauen Köpfe der US-Denkfabrik ist Jennifer Cafarella. Die 30-Jährige schrieb messerscharfe geopolitische Sicherheitsanalysen zu Putin und dem Syrien-Krieg, bevor sie sich mit ihrem Team auf die Ukraine konzentrierte.
Cafarella im Juni 2022 bei CNN: Die Kriegswissenschaftlerin prognostizierte früh, dass Putin scheitern werde
Am Montag hat Cafarella auf der Online-Plattform X eine aktuelle Einschätzung zur ukrainischen Gegenoffensive abgegeben. Die ins Deutsche übersetzten Erklärungen der US-Analystin sind nach Auffassung des watson-Redaktors auch für Menschen interessant, die sich nicht täglich mit dem Ukraine-Krieg befassen, aber eine fachkundige Einordnung schätzen.
Eines zeigt sich je länger desto mehr: Die von Wladimir Putin finanzierten pro-russischen Desinformations-Kampagnen verfangen bei beunruhigend vielen Leuten. Umso wichtiger ist es, mit Einschätzungen von Fachleuten dagegenzuhalten, die sich auf zuverlässige Quellen und Fakten abstützen.
ISW-Berichte sind für alle Interessierten frei zugänglich. Um sogenannte Open Source Intelligence (OSINT) betreiben zu können, beherrschen die ISW-Leute die Sprachen der Konfliktparteien, recherchieren vor Ort, kommunizieren mit Informanten und werten Online-Quellen aus. Wobei neben den grossen amerikanischen Social-Media-Plattformen der Messenger-Dienst Telegram mit seinen öffentlichen Kanälen enorm wichtig ist: Dort lassen sich Äusserungen russischer Staatsvertreter und Militärblogger auswerten und auch die ukrainische Armee- und Staatsführung nutzt Telegram zu Informations- und Propagandazwecken.
Und die Finanzierung? Das ISW bezeichnet sich als überparteiliche Organisation. Man stütze sich ausschliesslich auf private Spenden und nehme kein Geld von der US-Regierung oder von ausländischen Staaten an. Die «Kernfinanzierung» habe durch eine Gruppe von Rüstungsunternehmen stattgefunden, hält Wikipedia fest.
Im Folgenden geht es zunächst um Cafarellas Erläuterungen, wie sich Militäroperationen beurteilen lassen. Falls du dafür keine Zeit hast, springst du am besten zu Punkt 4.
Wie beurteilt man den Erfolg einer Militäroperation?
Cafarella erklärt:
Wir müssen auch einige Dinge über die Gestaltung der Operation selbst verstehen. In diesem Fall ist es unterm Strich noch zu früh, von einem Sieg zu sprechen, aber sicherlich zu früh, von einer Niederlage zu sprechen. Der Kampf läuft.
Zuerst gilt es einige Grundlagen der Kriegswissenschaft zu vermitteln. Operationen wie die, die die Ukraine durchführt, finden auf der sogenannten operativen Ebene statt – zwischen der taktischen Ebene (denken Sie an Truppen in kriegerischem Kontakt) und der strategischen Ebene (denken Sie an ultimative Kriegsziele).»
Was unterscheidet die ukrainische Kriegsführung von der russischen?
Dazu hält Cafarella fest:
Ja, Kunst. Es ist ein seltsames Wort im militärischen Kontext, aber es trifft zu. Obwohl wir öffentlich vieles darüber nicht wissen, wie die Dinge geplant, kommandiert und geführt werden, weisen die Kriegsanstrengungen der Ukraine Anzeichen von Kunstfertigkeit auf.
Bei Russland ist das nicht der Fall.»
Warum liegen viele skeptische «Militärexperten» falsch?
Die ISW-Analystin erklärt:
Letztlich (strategisch) besteht das erklärte Hauptziel der Ukraine darin, ihr gesamtes Territorium und ihre gesamte Bevölkerung zu befreien.
Angesichts der Lage auf dem Schlachtfeld zu dem Zeitpunkt, als die Ukraine ihre aktuelle Offensive startete, war es selbst mit Kunstfertigkeit nicht möglich, dieses Ziel auf einmal zu erreichen.
Daher begehen diejenigen, die die jüngsten Fortschritte der Ukraine anhand ihres strategischen Ziels und nicht anhand eines verschachtelten/unterstützenden operativen Ziels bewerten, einen Fehler in der militärischen Analyse.
Die Ukraine kann nicht ihr gesamtes Territorium in einer Operation zurückgewinnen. Eine Beurteilung auf dieser falschen Grundlage hat keinen analytischen Wert.»
Ist die Gegenoffensive ein Erfolg?
Cafarella warnt vor zu viel Optimismus:
Die ukrainischen Streitkräfte haben die ersten Schichten der russischen Verteidigung an der Saporischschja-Front durchbrochen und die Russen gezwungen, immer schwierigere Entscheidungen zu treffen, insbesondere zwischen Bachmut und Saporischschja.»
Was will die Ukraine mit der Gegenoffensive erreichen?
Dazu die US-Wissenschaftlerin:
Das eigentliche (als geheim eingestufte) Ziel wird spezifischer sein und wohl auch der unvermeidlichen Notwendigkeit Rechnung tragen, die Pläne im Laufe der Kämpfe weiterzuentwickeln.»
Warum ist die Lage für Russland brenzlig?
Cafarella fragt rhetorisch:
Anders ausgedrückt: Je tiefer sie vordringt, desto einfacher wird es für die Ukraine.
Das heisst, wir können nicht linear projizieren. Wenn es den Russen nicht gelingt, die wachsende Dynamik zu stoppen, könnte der ukrainische Durchbruch schnell und weitreichend ausfallen.»
Warum ist der westliche Wunsch nach Verhandlungen so gefährlich?
Zur Erinnerung: Putin will nicht verhandeln, sondern die Ukraine mit militärischen Mitteln vernichten. Wie wir seit der misslungenen Invasion im Februar 2022 wissen, liegt der russische Oberbefehlshaber auch öfter falsch. Dies sollte aber keineswegs dazu führen, Russland zu unterschätzen. Oder, wie es zuletzt häufiger aus westlichen Regierungskreisen zu hören war, auf eine Verhandlungslösung zu drängen.
Cafarella erklärt:
Die Tatsache, dass diese Ergebnisse durchaus möglich sind, bedeutet, dass es verfrüht ist, die Ukraine jetzt zu Zugeständnissen und Verhandlungen zu drängen.
Tatsächlich würde es Russland direkt zugute kommen, das dringend Zeit und Raum braucht, um sich neu zu formieren und zu versuchen, mehr Männer und Material zu sammeln, um seine Verteidigung zu stabilisieren.
Sind das die einzigen Ergebnisse, die durchaus möglich sind? Natürlich nicht. Es ist Krieg.»
Wie geht es auf dem Schlachtfeld weiter?
Das weiss derzeit niemand, weil der Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen von sehr vielen, zu einem grossen Teil öffentlich nicht bekannten Faktoren abhängt.
Cafarella gibt zu bedenken:
Es bleiben noch viele Kämpfe, aber die bisherigen Ereignisse deuten darauf hin, dass sich die Gestaltung der ukrainischen Offensive als eines dieser Beispiele für Kunstfertigkeit erweisen könnte.
Die Ukraine hat einige riskante, aber ausgezeichnete Entscheidungen getroffen. Ihre erbitterte Gegenwehr in Bachmut verursachte den Russen nicht nur erhebliche Kosten und trug zu Wagners Untergang bei. Sie unterstützte auch direkt das Durchbrechen der russischen Linien in der Südukraine, indem sie Kräfte band, die Russland praktisch nicht entbehren kann.»
Quellen
- twitter.com: Thread von Jennifer Cafarella
- understandigwar.org: Webseite zur ISW-Forschungstätigkeit
- cnn.com: On GPS: Russian victory far from guaranteed
- wikipedia.org: Institute for the Study of War