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Gegenoffensive der Ukraine: US-Expertin ist vorsichtig optimistisch

Die US-Analystin Jennifer Cafarella ist für das ISW (Institute for the Study of War) tätig und zeigt sich vorsichtig optimistisch, was die ukrainische Gegenoffensive betrifft.
Die US-Analystin Jennifer Cafarella ist für das ISW (Institute for the Study of War) tätig und zeigt sich vorsichtig optimistisch, was die ukrainische Gegenoffensive betrifft.Bild: watson
Analyse

Sie erklärt, warum auch «Militärexperten» bei der ukrainischen Gegenoffensive falschliegen

Die amerikanische «Kriegswissenschafterin» Jennifer Cafarella analysiert messerscharf, was von der ukrainischen Gegenoffensive zu halten ist und warum gewisse Einschätzungen zu kurz greifen.
21.09.2023, 09:1106.10.2023, 15:55
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Wenn du über das Kriegsgeschehen in der Ukraine aktuell und umfassend informiert sein willst, führt kein Weg am Institute for the Study of War (ISW) vorbei.

Die täglichen Lageberichte des ISW gehören für journalistische Berichterstatter seit Beginn der russischen Invasion zur Pflichtlektüre, sie werden aber auch in Geheimdienst- und Regierungskreisen genaustens studiert.

Einer der schlauen Köpfe der US-Denkfabrik ist Jennifer Cafarella. Die 30-Jährige schrieb messerscharfe geopolitische Sicherheitsanalysen zu Putin und dem Syrien-Krieg, bevor sie sich mit ihrem Team auf die Ukraine konzentrierte.

Cafarella im Juni 2022 bei CNN: Die Kriegswissenschaftlerin prognostizierte früh, dass Putin scheitern werde

Am Montag hat Cafarella auf der Online-Plattform X eine aktuelle Einschätzung zur ukrainischen Gegenoffensive abgegeben. Die ins Deutsche übersetzten Erklärungen der US-Analystin sind nach Auffassung des watson-Redaktors auch für Menschen interessant, die sich nicht täglich mit dem Ukraine-Krieg befassen, aber eine fachkundige Einordnung schätzen.

Eines zeigt sich je länger desto mehr: Die von Wladimir Putin finanzierten pro-russischen Desinformations-Kampagnen verfangen bei beunruhigend vielen Leuten. Umso wichtiger ist es, mit Einschätzungen von Fachleuten dagegenzuhalten, die sich auf zuverlässige Quellen und Fakten abstützen.

Vor Ort und bei Telegram
Das Institute for the Study of War (ISW) wurde 2007 von der US-Militärhistorikerin Kimberly Kagan gegründet, als Reaktion auf die Stagnation der US-geführten Kriege im Irak und in Afghanistan. Die gemeinnützige Organisation mit Sitz in Washington DC beschäftigt ein Team von Fachleuten, die nach wissenschaftlichen Standards arbeiten und Primär- und Sekundärquellen auswerten. Erklärtes Ziel ist es, in Echtzeit Analysen von laufenden Militäroperationen und kriegerischen Konflikten zu erstellen.

ISW-Berichte sind für alle Interessierten frei zugänglich. Um sogenannte Open Source Intelligence (OSINT) betreiben zu können, beherrschen die ISW-Leute die Sprachen der Konfliktparteien, recherchieren vor Ort, kommunizieren mit Informanten und werten Online-Quellen aus. Wobei neben den grossen amerikanischen Social-Media-Plattformen der Messenger-Dienst Telegram mit seinen öffentlichen Kanälen enorm wichtig ist: Dort lassen sich Äusserungen russischer Staatsvertreter und Militärblogger auswerten und auch die ukrainische Armee- und Staatsführung nutzt Telegram zu Informations- und Propagandazwecken.

Und die Finanzierung? Das ISW bezeichnet sich als überparteiliche Organisation. Man stütze sich ausschliesslich auf private Spenden und nehme kein Geld von der US-Regierung oder von ausländischen Staaten an. Die «Kernfinanzierung» habe durch eine Gruppe von Rüstungsunternehmen stattgefunden, hält Wikipedia fest.
«Wenn es den Russen nicht gelingt, die wachsende Dynamik zu stoppen, könnte der ukrainische Durchbruch schnell und weitreichend ausfallen.»
Jennifer Cafarella, ISW

Im Folgenden geht es zunächst um Cafarellas Erläuterungen, wie sich Militäroperationen beurteilen lassen. Falls du dafür keine Zeit hast, springst du am besten zu Punkt 4.

Wie beurteilt man den Erfolg einer Militäroperation?

Cafarella erklärt:

«Die Beurteilung des letztendlichen Erfolgs oder Misserfolgs einer grossen Militäroperation erfordert mehrere Blickwinkel. Am wichtigsten ist, dass wir die erzielten Auswirkungen auf dem Schlachtfeld berücksichtigen und sie gegen das gewünschte Ergebnis (oder ‹Ziel› in militärischer Hinsicht) abwägen.

Wir müssen auch einige Dinge über die Gestaltung der Operation selbst verstehen. In diesem Fall ist es unterm Strich noch zu früh, von einem Sieg zu sprechen, aber sicherlich zu früh, von einer Niederlage zu sprechen. Der Kampf läuft.

Zuerst gilt es einige Grundlagen der Kriegswissenschaft zu vermitteln. Operationen wie die, die die Ukraine durchführt, finden auf der sogenannten operativen Ebene statt – zwischen der taktischen Ebene (denken Sie an Truppen in kriegerischem Kontakt) und der strategischen Ebene (denken Sie an ultimative Kriegsziele).»

Was unterscheidet die ukrainische Kriegsführung von der russischen?

Dazu hält Cafarella fest:

«Die Analyse der operativen Ebene von Kriegen ist eine faszinierende und herausfordernde Disziplin. Vor allem, wenn eine Armee über Einsatzführer verfügt, die Operationen entwerfen, verfolgen und sie zu Kampagnen zusammenfassen können, und zwar mit einer Kunstfertigkeit, die über die harte Wissenschaft von Menschen und Material hinausgeht.

Ja, Kunst. Es ist ein seltsames Wort im militärischen Kontext, aber es trifft zu. Obwohl wir öffentlich vieles darüber nicht wissen, wie die Dinge geplant, kommandiert und geführt werden, weisen die Kriegsanstrengungen der Ukraine Anzeichen von Kunstfertigkeit auf.

Bei Russland ist das nicht der Fall.»

Warum liegen viele skeptische «Militärexperten» falsch?

Die ISW-Analystin erklärt:

«Während dieser Krieg aus menschlicher Sicht schon viel zu lange andauert, befindet sich die Ukraine immer noch in der Anfangsphase ihrer bewussten Gegenoffensive. Das liegt daran, dass die Russen ausreichend Zeit hatten, tiefgreifende, vielschichtige Verteidigungsanlagen zu errichten. Diese Operation ist also nicht das ‹Endgame›, was wiederum eine Tragödie für die Ukraine darstellt, die noch viele Monate damit zu kämpfen hat.

Letztlich (strategisch) besteht das erklärte Hauptziel der Ukraine darin, ihr gesamtes Territorium und ihre gesamte Bevölkerung zu befreien.

Angesichts der Lage auf dem Schlachtfeld zu dem Zeitpunkt, als die Ukraine ihre aktuelle Offensive startete, war es selbst mit Kunstfertigkeit nicht möglich, dieses Ziel auf einmal zu erreichen.

Daher begehen diejenigen, die die jüngsten Fortschritte der Ukraine anhand ihres strategischen Ziels und nicht anhand eines verschachtelten/unterstützenden operativen Ziels bewerten, einen Fehler in der militärischen Analyse.

Die Ukraine kann nicht ihr gesamtes Territorium in einer Operation zurückgewinnen. Eine Beurteilung auf dieser falschen Grundlage hat keinen analytischen Wert.»

Ist die Gegenoffensive ein Erfolg?

Cafarella warnt vor zu viel Optimismus:

«Für eine abschliessende Antwort ist es noch zu früh. Aber die Anzeichen deuten derzeit darauf hin, dass die Offensive wie geplant funktioniert und an Fahrt gewinnt, was bedeutet, dass es sicherlich noch zu früh ist, von einem Misserfolg zu sprechen.

Die ukrainischen Streitkräfte haben die ersten Schichten der russischen Verteidigung an der Saporischschja-Front durchbrochen und die Russen gezwungen, immer schwierigere Entscheidungen zu treffen, insbesondere zwischen Bachmut und Saporischschja.»
ISW-Analyse vom Dienstag, 19. September 2023.
ISW-Analyse vom Dienstag, 19. September 2023.screenshot: twitter.com

Was will die Ukraine mit der Gegenoffensive erreichen?

Dazu die US-Wissenschaftlerin:

«Die Ukraine verfolgt mit dieser Offensive ein Ziel, das weit davon entfernt ist, alle strategischen Kriegsziele zu erreichen. Aus den öffentlichen Erklärungen und der Planung dieser Operation können wir vermuten, dass das Ziel wahrscheinlich in groben Zügen darin besteht, die russische Nachschublinie zur Krim zu unterbrechen und ein Durchdringen der russischen Verteidigungslinien zu erreichen, das eine anschliessende ‹Ausbeutungsphase› ermöglicht.

Das eigentliche (als geheim eingestufte) Ziel wird spezifischer sein und wohl auch der unvermeidlichen Notwendigkeit Rechnung tragen, die Pläne im Laufe der Kämpfe weiterzuentwickeln.»

Warum ist die Lage für Russland brenzlig?

Cafarella fragt rhetorisch:

«Können die Russen es stabilisieren? Wir werden sehen. Aber das ISW hat weiter festgestellt, dass es Russland nicht nur an freien Reserven mangelt, sondern auch an Kräften im Allgemeinen, um die gleiche Besetzungsstärke der Verteidigungslinien mehrere Schichten zurück aufrechtzuerhalten. Also vielleicht nicht.

Anders ausgedrückt: Je tiefer sie vordringt, desto einfacher wird es für die Ukraine.

Das heisst, wir können nicht linear projizieren. Wenn es den Russen nicht gelingt, die wachsende Dynamik zu stoppen, könnte der ukrainische Durchbruch schnell und weitreichend ausfallen.»

Warum ist der westliche Wunsch nach Verhandlungen so gefährlich?

Zur Erinnerung: Putin will nicht verhandeln, sondern die Ukraine mit militärischen Mitteln vernichten. Wie wir seit der misslungenen Invasion im Februar 2022 wissen, liegt der russische Oberbefehlshaber auch öfter falsch. Dies sollte aber keineswegs dazu führen, Russland zu unterschätzen. Oder, wie es zuletzt häufiger aus westlichen Regierungskreisen zu hören war, auf eine Verhandlungslösung zu drängen.

Cafarella erklärt:

«Es bleibt durchaus möglich, dass es tatsächlich zu einem vollständigen und tiefgreifenden Durchbruch der Ukraine kommt, dass er die russische Verteidigung im Süden aus den Angeln hebt und es der Ukraine ermöglicht, die Nachschublinie zur Krim zu durchtrennen und dabei bedeutungsvolles Terrain zu erobern. Dies kann dann dazu führen, dass in einer neuen Betriebsphase noch mehr erreicht wird.

Die Tatsache, dass diese Ergebnisse durchaus möglich sind, bedeutet, dass es verfrüht ist, die Ukraine jetzt zu Zugeständnissen und Verhandlungen zu drängen.

Tatsächlich würde es Russland direkt zugute kommen, das dringend Zeit und Raum braucht, um sich neu zu formieren und zu versuchen, mehr Männer und Material zu sammeln, um seine Verteidigung zu stabilisieren.

Sind das die einzigen Ergebnisse, die durchaus möglich sind? Natürlich nicht. Es ist Krieg.»

Wie geht es auf dem Schlachtfeld weiter?

Das weiss derzeit niemand, weil der Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen von sehr vielen, zu einem grossen Teil öffentlich nicht bekannten Faktoren abhängt.

Cafarella gibt zu bedenken:

«Die [Gegenoffensive der] Ukraine könnte ins Stocken geraten. Russland könnte sich erfolgreich neu formieren. Russland könnte an anderer Stelle Gelände opfern und versuchen, einen geringeren Verlust hinzunehmen, um Kräfte freizusetzen, um Lücken im Süden zu schliessen. Usw. Der Punkt ist, dass es noch viele Kämpfe gibt und es noch zu früh ist, um zu sagen, wie diese Runde enden wird, geschweige denn der Krieg. Wir sind noch nicht im ‹Endgame›.

Es bleiben noch viele Kämpfe, aber die bisherigen Ereignisse deuten darauf hin, dass sich die Gestaltung der ukrainischen Offensive als eines dieser Beispiele für Kunstfertigkeit erweisen könnte.

Die Ukraine hat einige riskante, aber ausgezeichnete Entscheidungen getroffen. Ihre erbitterte Gegenwehr in Bachmut verursachte den Russen nicht nur erhebliche Kosten und trug zu Wagners Untergang bei. Sie unterstützte auch direkt das Durchbrechen der russischen Linien in der Südukraine, indem sie Kräfte band, die Russland praktisch nicht entbehren kann.»

Quellen

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quelle: www.imago-images.de / imago images
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59 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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RobinBayne
21.09.2023 09:54registriert Januar 2016
„Der russische Oberfehlshaber“. Was für ein herrlicher Freudscher Tippfehler 😂
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Zum Kommentar
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maylander
21.09.2023 09:31registriert September 2018
Je länger der Krieg dauert, desto mehr büsst Russland an politischen und wirtschaftlichen Einfluss ein.
Es ist also Russland das unbedingt Verhandlungen braucht. Dummerweise hat Putin in der Vergangenheit alle Verträge gebrochen, so dass verständlicherweise die Ukraine kein Interesse an Verhandlungen hat

Am besten Abwarten, trainieren und aufrüsten. Und mir ein bisschen Glück zerfleischen sich die Russen noch mehr.
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Wiesler
21.09.2023 09:31registriert August 2019
Visualpolitik DE hat gestern ein gutes Video dazu gemacht. Es hilft allen den Kompass zu richten, die behaupten, es sei Zeit für Verhandlungen.
Sehenswert!
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