Angriffe auf Öl-Infrastruktur: «Russland ist dabei, diesen Kampf zu verlieren»
Wer gewinnt den Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt? Die Antwort auf diese Frage findet sich vielleicht in der Geschichte, nämlich im Zweiten Weltkrieg. Das ist die Grundidee von Michael Bohnert, ausgebildeter Ingenieur und Militärexperte bei der renommierten Denkfabrik Rand, die er dem «Wall Street Journal» und dem britischen «The Telegraph» erklärt hat. Denn zwischen damals und heute gibt es eine entscheidende Parallele.
Was lässt sich aus dem Zweiten Weltkrieg lernen?
Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die USA mehrere Studien erstellen lassen, erklärt Bohnert. Sie wollten wissen, warum sie eigentlich gewonnen hatten. Welche der verschiedenen Strategien hatte die grösste Wirkung?
Eine der umfassendsten Studien seien dabei die «U.S. Strategic Bombing Surveys» gewesen. Die USA habe damit alle Phasen der Bombardierung in Europa und im Pazifik untersucht und dafür auch Hunderte von Personen aus dem deutschen und japanischen Militär und der Industrie interviewt.
Laut den Interviewten hätten die Angriffe auf die Öl- und die Logistik-Infrastruktur allein ausgereicht, um ihre jeweiligen Länder zur Beendigung des Kriegs zu zwingen, sagt Bohnert. Die USA bombardierten damals in Europa die deutschen Ölraffinerien und blockierten die Zufuhr von Rohöl. Ebenso attackierten sie Strassen, Seerouten oder Eisenbahnschienen.
Dabei war die Bombardierung der Ölinfrastruktur am wichtigsten, also von Raffinerien, Öltanks oder Pipelines, sagt Bohnert. Sie sei in Europa wie im Pazifik «entscheidend» gewesen. Zum Beispiel mangelte es 1945 der deutschen Wehrmacht an Treibstoff. Deutschland transportierte gegen Kriegsende sogar Panzer an die Front, obwohl diese nicht mehr manövrierfähig waren.
Warum ist die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg für den heutigen Krieg wichtig?
Die Ukraine bombardiert seit einigen Wochen die russische Ölinfrastruktur, insbesondere Raffinerien. Laut der Nachrichtenagentur Reuters hat es seit Anfang August schon 58 solche Attacken gegeben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von «den wirksamsten Sanktionen». Bohnert erklärt dazu:
Genau ein solcher Stillstand ist das Ziel der ukrainischen Regierung, wie ein Sprecher zu Reuters sagt. Man wolle Engpässe bei wichtigen Produkten wie Benzin und Diesel verursachen, damit es für Moskau schwieriger werde, an der Front voranzukommen.
Welche Hinweise für eine Benzin-Knappheit sieht man heute schon?
Bohnert nennt als Beleg für eine Ölknappheit die Tankstellen mit langen Schlangen von auf Treibstoff wartenden Autos und Lastwagen. In den russischen sozialen Medien würden sich zudem die Beschwerden häufen, über Kürzungen bei Buslinien und leere Regale in den Geschäften. An der Front habe Russland gegen Ende September begonnen, Gebiete in der besetzten Ukraine zu verlieren, und russische Truppen nannten Versorgungsengpässe als einen entscheidenden Grund dafür.
Und die Knappheit zeige sich in harten Daten, sagt Bohnert: 25 bis 38 Prozent der russischen Ölraffineriekapazitäten seien demnach ausser Betrieb. Und die Verluste würden weiter ansteigen. Alles in allem sei in Russland wohl nicht mehr genügend Treibstoff vorhanden, um den Bedarf der Industrie und zugleich des Militärs zu decken.
Wie kann es sein, dass das ölreiche Russland zu wenig Benzin hat?
Laut Bohnert ist es wichtig, rohes und raffiniertes Öl zu unterscheiden. Beide hätten miteinander verbundene, aber unterschiedliche Funktionen. Rohöl könne Russland exportieren und mit den Einnahmen dann Kriegsmaterial im Ausland einkaufen. Raffiniertes Öl hingegen braucht Russland, weil es Materialien für die Industrie liefert sowie als Treibstoff für den Transport. Sonst kann es keine Lastwagen, Panzer, Drohnen oder Flugzeuge antreiben.
Russland kann einen gewissen Verlust an Raffinerien auffangen. So kann es beispielsweise Treibstoff im Ausland einkaufen. Laut Bohnert ist dieser Puffer jedoch nicht gross genug, um den Verlust von 25 bis 38 Prozent seiner Kapazitäten auszugleichen. Die Reparatur der Raffinerien ist schwierig. Es fehlen Arbeitskräfte, es fehlen Ersatzteile, während die Ukraine gezielt die wichtigsten, am schwersten zu ersetzenden Teile bombardiert.
Russland müsse sich entscheiden, wie viel raffiniertes Öl es für die Wirtschaft verwendet, wie viel für private Autofahrer, wie viel für die Interessen der Oligarchen – und wie viel es an die Front schickt. Als korruptes Land habe es sich in der Vergangenheit schwer damit getan, die richtigen Prioritäten zu setzen. Es werde auch nun zu kämpfen haben, um den Angriffen gegen seine Öl- und Logistik-Infrastruktur zu begegnen, sagt Bohnert. «Russland ist dabei, diesen Kampf zu verlieren.»
An dieser Einschätzung hält Bohnert fest, obschon Russland umgekehrt die ukrainische Infrastruktur angreift. Die Ukraine verliere zwar Kraftwerke, sagt Bohnert. Aber die meisten Angriffe würden sich weiterhin gegen Menschen richten. Von der Infrastruktur lasse Russland den grössten Teil intakt, wohl weil es diese bei einer Besetzung des Landes benötigen würde. Zudem habe die Ukraine den Vorteil, dass viele ihrer Nachbarn in der Lage seien, ihr Strom, Waffen und Treibstoff zu liefern.
Welche Folgen wird man in den nächsten Monaten oder Jahren sehen?
In Russland gebe es Berichte über Treibstoffmangel an der Front, in der Ukraine nicht, sagt Bohnert. Daher sei er der Ansicht, dass Russlands Fähigkeit, den Krieg weiterzuführen, langfristig gesehen abnehme. «Der russische Bär wird langsam ausgehungert.»
Das bedeutet jedoch nicht, dass dieser Bär an der Front kollabieren werde. Russland könne durchhalten, auch wenn es schreckliche Verluste erleide. «In der Vergangenheit haben Länder noch lange weitergekämpft, nachdem sie keine Ressourcen mehr dafür hatten.» Aber die Dynamik sei definitiv auf der Seite der Ukraine. Wenn sich dies nicht ändere, könne die Ukraine die Russen langsam zurückdrängen.
Könnte Putin versuchen, mit einer Atombombe doch zu gewinnen?
Ein unterlegenes Russland könne zu einem verzweifelten Russland werden, sagt Bohnert. Er halte jedoch einen nuklearen Angriff nicht für realistisch. Ein ernstes Risiko sei der Einsatz chemischer Waffen.
Insgesamt liege das militärische Momentum auf der Seite der Ukraine und Putin werde irgendwann dem innenpolitischen Druck nachgeben müssen. Das könnte in sechs Monaten sein. Das könnte an Weihnachten sein. Das könnte in fünf Jahren sein. «Aber solange die Kämpfe weitergehen wie bisher, wird die Ukraine in künftigen Friedensverhandlungen die besseren Karten haben.»
(aargauerzeitung.ch)