Eigentlich war es schon damals nicht mehr lustig, im Mai 2015, als der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban bei einem Gipfeltreffen in Riga mit den Worten «Hallo Diktator!» begrüsste. Heute ist definitiv niemandem mehr zum Lachen zu Mute. Das Verhältnis zwischen Ungarn und seinen EU-Partnern ist zerrüttet.
Orban, der sich einst als junger Mann an die Spitze des Aufstands gegen die kommunistische Diktatur gesetzt hat, vergleicht jetzt die EU mit der Sowjetunion. Er spricht von «Kolonialismus» und davon, dass die «Brüsseler Bürokraten» seinem Land ihre liberalen, in seinen Augen, dekadenten Werte überstülpen wollten.
Aber auch mit Polen liegen die Westeuropäer im Clinch. Vielleicht ist die Situation hier sogar noch schlimmer als mit Ungarn. Denn während Orban «nur» die Medienlandschaft unter seine Kontrolle gebracht und ein System der Günstlingswirtschaft geschaffen hat, sägt die nationalkonservative «Recht und Gerechtigkeit»-Regierung in Warschau seit Jahren am Fundament des demokratischen Rechtsstaats selbst.
Die Demontage läuft weniger geräuschvoll ab als der Streit mit Ungarn. Aber sie ist umso tiefgreifender: Faktisch hat Polen heute keine unabhängigen Gerichte mehr. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat dies in mehreren Urteilen festgestellt und Polen zu Sofortmassnahmen verdonnert. In Warschau jedoch foutiert man sich darum.
Kommt es nun zum endgültigen Bruch in der vielzitierten EU-Wertegemeinschaft? Ringen sich die EU-Staaten, nachdem sie jahrelang auf Appeasement gesetzt haben, jetzt zu einem Donnerschlag durch?
Die Zeichen verdichten sich, dass es in diese Richtung laufen könnte. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, ist Orbans neues Kinderschutzgesetz, das nach Ansicht der meisten Beobachter in Wirklichkeit ein Anti-Homosexuellen-Gesetz ist. In Polen ist es die hartnäckige Weigerung, bei den Justizreformen einzulenken und die politische Steuerung von Richter und Staatsanwälten rückgängig zu machen.
EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen will nun dort ansetzen, wo es wehtut: beim Portemonnaie. Die Milliardenhilfen aus dem Coronafonds bleiben vorerst blockiert. Im Herbst droht Ungarn und Polen ein Sanktionsverfahren, an dessen Ende der Entzug der üppigen Finanzhilfen aus den Kohäsionsbeiträgen stehen könnte. Entscheidend wird sein, ob auch Deutschland, welches Viktor Orban unter Bundeskanzlerin Angela Merkel stets protegiert hatte, nun bereit ist, die Samthandschuhe auszuziehen.
Orban, der sich selbst als politischen Strassenkämpfer sieht, gibt sich wacker. Man brauche das Coronageld aus Brüssel gar nicht. Die ungarische Wirtschaft verzeichne solch hohe Wachstumsraten, dass man sich auch selbst helfen könne. Jetzt will er die Bevölkerung über das Kinderschutzgesetz abstimmen lassen. Gibt ihm das ungarische Volk grünes Licht, dann hat sich die Sache für ihn erledigt. In Polen steht unterdessen ein Grundsatzurteil des Verfassungsgerichts an, welches das nationale Recht über das Europäische Recht stellen dürfte. Es wäre der Auftakt zum «Polexit», dem polnischen Austritt aus der EU-Rechtsgemeinschaft.
Wie der Streit endet, ist schwer abzusehen. Ulrich Schmid, Professor der Universität St.Gallen mit Fachbereich Osteuropa, glaubt nicht, dass Polen und Ungarn wirklich bis zum Äussersten gehen werden. Im entscheidenden Moment hätten sie bisher immer eingelenkt, so Schmid (siehe Interview). Ob es auch jetzt so sein wird, ist allerdings fraglich. In Ungarn stehen nächstes Jahr Wahlen an. In Polen im Jahr 2023. Die immer neuen Verfahren und Drohungen aus Brüssel können die beiden Regierungen dabei dankbar als Wahlkampfmunition nutzen.
Tatsächlich schreibt auch die ungarische Rechtsprofessorin Timea Drinoczi in einem Blogeintrag mit dem Titel «Die EU wird uns nicht retten können», dass Druckversuche von aussen zur Verhärtung beitragen und das Argument der nationalen Souveränität befördern könnten. Für Ungarn bilanziert die Rechtsprofessorin: Solange die Bürgerinnen und Bürger sich nicht aus eigener Kraft gegen Orban wehren würden, bleibe das Land ein «hoffnungsloser Fall». (aargauerzeitung.ch)