Sind Linke gar nicht so tolerant, wie sie denken? Dies legt zumindest ein Artikel der SonntagsZeitung mit dem Titel «Links, urban, gebildet – und intolerant» nahe. Die Autorin geht dabei auf eine Studie des Mercator Forum Migration und Demokratie am Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung der Technischen Universität in Dresden ein. Auf Twitter regt sich nun heftiger Widerstand gegen diese Interpretation der Studie. Darum geht es:
«Je gebildeter, reicher, städtischer und linker jemand ist, desto weniger werden Menschen akzeptiert, die ein anderes Weltbild haben», schreibt die «SonntagsZeitung» in ihrer Interpretation der Studie. Besonders intolerant seien also nicht die Konservativen auf dem Land, sondern eben die urbanen Linken.
Dies rühre besonders daher, dass Linke glauben, sie würden sich stets für das Gute einsetzen. Wer also eine andere Meinung vertritt, steht daher automatisch auf der Seite der Bösen, sagt der Schweizer Politologe Michael Hermann zur «SonntagsZeitung». Wer also «zur Kategorie der Bösen oder Unterdrücker zählt», müsse nicht mit Empathie rechnen, so Hermann.
Es sei also die Linke, die die Spaltung der Gesellschaft mit ihrer Intoleranz vorantreibe. Dabei sei es grundsätzlich kein Problem, wenn Menschen unterschiedlicher Meinung sind. Problematisch sei, wenn sich negative Gefühle gegenüber Menschen mit anderer Meinung einstellten. Dann spricht man von affektiver Polarisierung und ebendiese sei auf linker Seite ausgeprägter wie bei Konservativen oder Rechten.
Nicht dieser Meinung ist zum Beispiel Juso-Präsident Nicola Siegrist. Er nennt die Interpretation der «SonntagsZeitung» auf Twitter «unwissenschaftlich».
Bettina Weber schlägt in der @sonntagszeitung wieder zu: gebildete linke Städter*innen seien intolerant (und sowieso Schuld an allem übel dieser Welt)
— Nicola Siegrist (@Nicola_Siegrist) July 30, 2023
Ich habe mir diese Studie mal genauer angeschaut.
Spoiler: Die Interpretation von Weber ist unwissenschaftlich.
1/12 pic.twitter.com/vgQzVV3Wnl
Dabei sieht Siegrist zwei Probleme: Einerseits wurden keine Schweizerinnen und Schweizer befragt. Die zehn in der Studie untersuchten Länder zeigten starke Unterschiede untereinander auf. Es stellt sich also die Frage, ob die Schweiz wie Frankreich, wie Deutschland oder wie Italien sei. Eine Aussage zur Schweiz sei also aufgrund dieser Resultate schwierig zu treffen.
Weiter bemängelt Siegrist, dass die Resultate im Artikel nur selektiv gezeigt würden. So seien alte Menschen nach dieser Studie deutlich intoleranter als junge, dies werde aber überhaupt nicht erwähnt. Ausserdem sei man auf linker Seite intolerant gegenüber Intoleranz: «Linke akzeptieren nicht, dass Leute den Klimawandel leugnen, Frauen weiterhin erniedrigen und queeren Menschen ihre Rechte absprechen», schreibt der Juso-Chef.
Die Studie wird also unterschiedlich interpretiert. Doch was sagen eigentlich die Studienautoren dazu? «Insgesamt lehnten die Wähler linker und grüner Parteien in den untersuchten Ländern Menschen mit anderen Ansichten stärker ab als Menschen, die sich eher im rechten politischen Spektrum verorten», hält auch der Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung, Hans Vorländer, im Interview mit der «Süddeutschen» fest.
Er relativiert aber: In Deutschland zum Beispiel seien Anhänger der AfD deutlich polarisierter als alle anderen. Zudem liessen sich besonders in gewissen Reizthemen wie Klimawandel oder Zuwanderung hohe Polarisierungswerte nachweisen. So vertrage die Linke beim Klimawandel andere Meinungen schlechter, bei der Migration oder der Corona-Pandemie sei es hingegen genau umgekehrt.
Die Resultate der Studie zeigen also ein sehr viel differenzierteres Bild. So sind Menschen, die sich selbst der Parteifamilie «grün und ökologisch» zuordnen, im Schnitt besonders stark affektiv polarisiert. Jene, die sich selbst als «rechts oder rechtsextrem» einordnen, sind zwar ebenfalls stärker polarisiert als der Durchschnitt, aber eben nicht so stark wie Menschen des linken Spektrums.
Auf der anderen Seite sind besonders Menschen im Alter von über 55 Jahren überdurchschnittlich polarisiert, jene zwischen 18 und 34 Jahren hingegen deutlich unterdurchschnittlich. Auch beim Bildungsgrad sind Hochgebildete nur leicht polarisierter als schwach Gebildete. (leo)