Bei den Wahlen 2019 feierten die Grünen einen für hiesige Verhältnisse erdrutschartigen Sieg. Sie konnten ihren Wähleranteil fast verdoppeln. Vier Jahre später ist die Euphorie verfolgen. Das neuste SRG-Wahlbarometer verheisst ihnen kein Debakel, aber mit einem Minus von drei Prozent müssten sie einen erheblichen Teil ihrer Zugewinne wieder abgeben.
Umfragen sind Momentaufnahmen, doch der Trend für die Grünen ist beunruhigend. In den ersten zwei Jahren nach den Wahlen konnten sie ihr Niveau halten, seither aber geht es bergab. Das wirkt erstaunlich, denn der Klimaschutz bleibt für die Befragten des vom Institut Sotomo erstellten Wahlbarometers die grösste politische Herausforderung.
Erklärbar ist es trotzdem. Die Klimakrise ist mittlerweile bei allen grossen Parteien ausser der SVP «angekommen». Dies zeigt das im Juni vom Stimmvolk angenommene Klimaschutz-Gesetz. Weitere klimapolitische Gesetze und Volksinitiativen sind in der Pipeline. Es besteht keine Dringlichkeit mehr, die Grünen als politisches «Druckmittel» zu wählen.
Ein Teil des Problems ist zudem «hausgemacht». Die Grünen haben es in den letzten vier Jahren versäumt, ein eigenständiges Profil zu entwickeln. Von der SP unterscheiden sie sich höchstens bei der Parteifarbe. Inhaltlich sind beide weitgehend identisch. Es erstaunt wenig, dass in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten manche zum «Original» zurückkehren.
Weiter spielt ein externer Faktor eine wichtige Rolle. Vor vier Jahren wurde die Debatte durch die Proteste der Klimastreik-Bewegung dominiert. Die Angst junger Menschen um ihre Zukunft machte viele Stimmberechtigte betroffen und motivierte sie dazu, die Liste der Grünen einzulegen. Doch die Zeit der grossen Klimademos scheint vorbei zu sein.
Heute wird der Klimaprotest von radikalen Aktivistinnen und Aktivsten und ihren zumeist illegalen Aktionen dominiert. In Deutschland nennt sich diese Bewegung Letzte Generation, während bei uns die Kampagne Renovate Switzerland die Richtung vorgibt. Kaum war die Abstimmung über das Klimaschutz-Gesetz vorbei, klebten sie sich wieder auf die Strasse.
Dieser laut eigenen Angaben «zivile Widerstand» macht nicht nur die direkt betroffenen Autofahrerinnen und -fahrer wütend. Im SRG-Wahlbarometer werden die Klimakleber als zweitgrösstes aktuelles Ärgernis nach der Misswirtschaft bei der Credit Suisse benannt. Das schade den Grünen sehr, meinte der Politologe Oliver Strijbis im Interview mit watson.
Berührungspunkte zwischen der Partei und den Klimaklebern gibt es kaum, dennoch werden die Grünen mit ihnen in den gleichen Topf geworfen. Parteichef Balthasar Glättli kritisierte gegenüber watson, dass ein solcher Aktivist «per Flugzeug von Zürich nach Paris fliegt, wo es ja einen TGV gibt». Eine echte Distanzierung von den Klimaklebern ist das nicht.
Für Oliver Strijbis würde das den Grünen auch nicht helfen: «Sie können sie nur ignorieren und anders über die Thematik diskutieren.» Punkt eins ist schwierig, denn in solchen Fällen gilt häufig das Prinzip «mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen». Richtig aber ist, dass die Grünen andere Akzente setzen und so die Schwachstelle der Klimakleber ausnutzen können.
Ihre Hauptforderung ist ein Notfallplan zur thermischen Sanierung aller Gebäude bis 2030. Sie wird weniger lautstark propagiert wie zu Beginn der Klebeaktionen – die etwa von watson vorgebrachte Kritik scheint nicht wirkungslos geblieben zu sein. Der Schwerpunkt liegt heute beim «Klimanotstand», doch die Bezeichnung Renovate Switzerland bleibt.
Dabei befinden sich Gebäudesanierungen auf der Liste der Klimaschutz-Massnahmen polemisch formuliert auf Rang 17 oder 18. Viel wichtiger und einfacher realisierbar ist die Abkehr von fossilen Brennstoffen. Die finanziellen und personellen Ressourcen müssen prioritär in den Zubau von Solarstrom und die Energie-Effizienz gesteckt werden.
«Dekarbonisieren statt renovieren» könnte der zugegeben etwas umständliche Slogan lauten, mit dem sich die Grünen von den Klimaklebern abgrenzen können, ohne ihnen offen an den Karren zu fahren. Wie das gehen könnte, zeigt Balthasar Glättli im watson-Interview auf, etwa mit seinen Vorschlägen zur Produktion von solarem Winterstrom.
Mit einer solchen Kampagne in der heissen Phase des Wahlkampfs können die Grünen der Klimakleber-Falle entkommen, in der sie unfreiwillig, aber nicht ganz unverschuldet gelandet sind. Illusionen aber dürfen sie sich keine machen: Es geht nur darum, den Schaden im Oktober zu begrenzen. Der «Falle» des Negativtrends entkommen sie nicht mehr.
"Wir setzten uns für die Durchsetzung von Umweltanliegen ein, indem wir uns politisch dafür engagieren. Wir akzeptieren demokratische Entscheide. Zivilen Ungehorsam lehnen wir ab, so lange wir diesen politischen Weg beschreiten können."
So wird das nichts mit dem Bundesrat, was bei dem vorherrschenden Personal aber eine gute Nachricht ist.