Es ist der mit Abstand schnellste Beitrittsprozess, den die EU je erlebt hat: Nicht einmal 18 Monate nach der Ernennung zum Beitrittskandidaten empfiehlt die EU-Kommission bereits, offizielle Verhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. «Es ist ein historischer Tag», sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in Brüssel.
Und in Kiew freute sich Präsident Wolodimir Selenski: «Es ist der richtige Schritt. Die Ukraine gehört in die Europäische Union». Die Ukrainerinnen und Ukrainer hätte sich dies mit der Verteidigung europäischer Werte «verdient», so Selenski. Das letzte Wort werden nun im Dezember die Staats- und Regierungschefs haben.
I welcome today’s recommendation by the European Commission to open EU accession negotiations with Ukraine.
— Volodymyr Zelenskyy / Володимир Зеленський (@ZelenskyyUa) November 8, 2023
This is a strong and historic step that paves the way to a stronger EU with Ukraine as its member.
I thank the EU and personally @vonderleyen for supporting Ukraine on… pic.twitter.com/7py1imxCRT
Bevor das erste Kapitel der Beitrittsverhandlungen im März kommenden Jahres formell eröffnet werden kann, muss die Ukraine aber noch drei von insgesamt sieben Reformkriterien erfüllen. Konkret geht es um zusätzliche Anstrengungen bei der Korruptionsbekämpfung, speziell auf hoher Ebene. Aber auch im Kampf gegen den Einfluss von Oligarchen oder beim Schutz von Minderheiten muss Kiew noch nachlegen. Von der Leyen zeigte sich zuversichtlich, dass dies gelingen wird: «Der Fortschritt ist beeindruckend». Die verbleibenden Reformen seien bereits auf gutem Weg, so die 65-jährige Deutsche.
Während von der EU-Seite stets betont wird, dass es keine Abkürzungen geben und der Beitrittsprozess anhand der konkreten Fortschritte bemessen wird, ist bei der Ukraine offensichtlich, dass sehr wohl die Geopolitik mitspielt: «In Zeiten, in denen die internationale Ordnung infrage gestellt wird, macht uns die Erweiterung stärker», sagte von der Leyen mit Blick auf Russland und dessen imperiale Ambitionen.
Dem Argument, dass die Ukraine die EU stärker und sicherer mache, stimmen jedoch nicht alle zu. Immerhin sollen nun erstmals in der Geschichte Beitrittsverhandlungen mit einem Land beginnen, dass sich in einem offenen Krieg befindet. Am deutlichsten positioniert sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, der kürzlich sagte, dass man noch nicht einmal wisse, wo genau die Grenze der Ukraine verlaufe. Wenn er will, kann der Ungare den Start der Beitrittsverhandlungen im Alleingang blockieren.
Klar ist auch: Bis das 44-Millionen-Land in die EU aufgenommen wird, werden noch Jahre oder gar Jahrzehnte vergehen. Immerhin stehen auch aus dem Westbalkan sechs Staaten seit Jahren in der Warteschlange. Dazu kommt die Republik Moldau, für welche Brüssel ebenfalls am Mittwoch die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen vorschlug.
Insgesamt gibt es zehn mögliche Beitrittsländer, wodurch die EU theoretisch von heute 27 auf bis zu 37 Staaten anwachsen könnte. Einig ist man sich deshalb, dass parallel zur Erweiterung ein interner Reformprozess stattfinden muss, um noch einigermassen handlungsfähig zu bleiben. Schon heute gibt die EU oft ein zerstrittenes Bild ab.
Dazu gibt es verschiedene Reformansätze. Am naheliegendsten wäre die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip in allen Fragen, um die Entscheidungsprozesse zu straffen. Aber auch ein «Kerneuropa» mit stärker integrierten und eines mit weniger stark integrierten Ländern können sich manche vorstellen. Allein diese Diskussion wird noch weit schwieriger zu führen sein als jede Erweiterungsdebatte. (aargauerzeitung.ch)