Wohl noch nie musste das französische Verfassungsgericht einen so weitreichenden – und einen so politischen – Entscheid fällen wie jetzt. Allzu viel steht auf dem Spiel in diesem fast schon archetypischen Konflikt zwischen einem mächtigen, aber einsamen Präsidenten und der «Strasse», wo seit Wochen regelmässig mehr als eine Million Demonstranten protestieren: Es geht um die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre, aber auch um die Zukunft von Emmanuel Macron. Einen ersten Reformanlauf hatte er 2019 lanciert, wegen der Covidkrise aber abgebrochen. Eine zweite, entschlackte Version zieht seit Monaten noch mehr Kritik auf sich. 70 Prozent der Französinnen und Franzosen sind laut Umfragen dagegen, und seitdem die Regierung die Reform ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung drückte, häufen sich auch die Gewaltexzesse.
Alle Blicke richten sich nun auf Laurent Fabius, den Präsidenten des französischen Verfassungsgerichtes. Der einst jüngste Premierminister Frankreichs, heute 76 Jahre alt, muss die Reform am Freitag zusammen mit acht anderen Magristraten absegnen. Bei den meisten Gesetzen ist das eine pure Formsache. Im Rentenkonflikt, in dem die Fronten völlig verhärtet sind, wird die Frage der Verfassungsmässigkeit aber politisch entscheidend. Auf jeden Fall bietet sie sich als letzter Ausweg aus einer schweren sozialen und demokratischen Krise an. Frankreich ist von dem Konflikt erschöpft. Die Streikenden büssen Lohnanteile ein, auch wenn sie in der Offensive bleiben; Macron steht mit dem Rücken zur Wand. Und die unbeteiligte Bevölkerung hat genug von Abfallstreiks, Benzinmangel und Bahnblockaden.
Wie der Conseil Constitutionnel entscheiden wird, ist bisher nicht im Ansatz durchgesickert. Anders als in den USA ist das höchste Landesgericht nicht politisch zusammengestellt, und seine neun Mitglieder sind auch nicht auf Lebenszeit nominiert, sondern auf neun Jahre. Ernannt werden sie zu je einem Drittel von den Präsidenten der Republik sowie den beiden Parlamentskammern. Die drei Frauen und sechs Männer – so der heutige Bestand – sind Juristen und im Schnitt 72-jährig. Nur zwei sind einer breiten Öffentlichkeit bekannt: der Sozialist Fabius und der konservative Ex-Premier Alain Juppé. Beide sind nicht von Macron ernannt worden. Der aktuelle Präsident hat hingegen zwei ehemalige Minister nominiert.
Diese Zusammensetzung lässt ihrerseits kaum einen Schluss zu, wie der Entscheid am Freitag ausfallen könnte. «Das Gericht tanzt nicht nach der Pfeife des Staatspräsidenten», schätzt der Staatsrechtler Jean-Philippe Derosier. Das Wochenmagazin le point spekulierte, dass Fabius Macron «nicht riechen» könne; im kleinen Kreis habe er ihn einmal als «gepuderten Marquis» verspottet. Aber das will in Paris nicht viel heissen. Wichtiger könnte sein, dass Fabius als formgewandter Mann gilt, der sich nicht mit Mächtigen anlegt, aber auch nicht gerne gegen den politischen Strom schwimmt.
Deshalb könnte es sein, dass der Conseil einen Kompromiss anstrebt. Zum Beispiel, indem er das zentrale Rentenalter 64 durchwinkt, Nebenpunkte wie etwa Regeln für Seniorenarbeit aber zensiert. Oder indem er die ganze Reform billigt, aber das Tor zu einer Volksabstimmung öffnet.
Dieses «référendum d'initiative partagé» (RIP) erfordert 4.8 Millionen Unterschriften – ein Zehntel der Stimmberechtigten. Diese hohe Hürde wäre angesichts des breiten Widerstands gegen das neue Rentenalter erstmals überhaupt zu schaffen. Macron würde die Abstimmung zweifellos verlieren, zumal sich solche «Referenden» in Frankreich fast automatisch in ein Plebiszit über – das heisst gegen – gegen den Präsidenten verwandeln. Charles de Gaulle musste deshalb 1969 den Hut nehmen. Linkenchef Jean-Luc Mélenchon wartet nur darauf, Macron an den Urnen abzustrafen. Der unpopuläre Präsident wäre vielleicht fast froh, wenn der Verfassungsrat seine Reform für unzulässig erklärt – so käme er um eine Volksabstimmung herum. (aargauerzeitung.ch)
Dem Volk muss aber klar sein, dass man für das tiefe Rentenalter aufkommen muss. Sei es durch höhere Steuern oder durch mehr Zuwanderung.
Heute ist ein Viertel der Franzosen über 60. Im Jahr 2040 wird es ein Drittel sein. In den nächsten Jahren kommen jährlich 20'000 zusätzliche Leute in die Altersheime. Allein deren Pflege wird 2040 zusätzliche 31 Mia. pro Jahr kosten. Insgesamt stehen zusätzliche Kosten von 100 Mia. pro Jahr an.
Jemand wird zahlen müssen.
Wenn man nie abstimmen darf und dann ein Referendum über ein hochumstrittenes Thema kommt, dann wird es automatisch zu einem Plebiszit über die Regierung.
Liebe Franzosen, besser nicht! Fangt mal klein an, bevor ihr in der Demokratie Champions League spielen wollt.