Vor gut zehn Jahren, als sie ihren Vater Jean-Marie Le Pen aus der Partei warf, die er selber gegründet hatte, nannte man sie noch «die blonde Bestie». Auch die Immigranten wollte sie aus dem Land werfen, zusammen mit der EU und der Nato. Einführen, genauer: wiedereinführen wollte sie nur die Todesstrafe.
Jetzt wandelt «Marine», wie sie ihre Fans nur noch nennen, mit strahlendem Lächeln und staatsmännischer Pose über den hübschen Markt des südfranzösischen Städtchens Pertuis. Ein Selfie hier, ein Küsschen dort: Die Provence ist ein Heimspiel für die Rechte.
lacht die Frau, die ihren Nachnamen vergessen machen will.
Irgendwo skandieren ein paar schwarzgekleidete Junge, Faschisten hätten hier nichts zu suchen. Ein Paar mit einer Ukrainer-Fahne schreit gegen Le Pens Putin-Affinität an. Und eine ältere Marktfahrerin mit einem moslemischen Kopftuch wirft der Starbesucherin vor, sie verletze Frankreichs sakrosanktes Prinzip der «égalité», wenn sie Immigranten wie ihr Sozialrechte vorenthalten wolle.
Le Pen erwidert lächelnd: «Ich kämpfe für alle Franzosen.» Schon schwebt sie weiter auf ihrer Wolke, zum nächsten Selfie, der nächsten «bise» (Küsschen). Der Pariser Sender BFM, der den Marktbesuch live überträgt, kommentiert anerkennend: «Sie ist populär. Sie macht hier keine Angst, sie ist kein Schreckgespenst mehr.»
Vor einem Stand mit der gelben Inschrift «ein Kleid 8 Euro, zwei 15 Euro» verspricht Le Pen «mehr Kaufkraft». Das ist ihr Trumpf As. Seitdem alles teurer geworden ist, erhöht die Vorsteherin des «Rassemblement National» (RN) ihre Wahlversprechen geradezu inflationär.
Im ersten Wahlgang Mitte April ist Le Pen mit 23.2 Prozent in die Stichwahl gegen den Amtsträger Emmanuel Macron eingezogen; für die Stichwahl nähert sie sich laut Umfragen der 50-Prozent-Schwelle.
Beim Stichwort Macron lacht die Populistin nur. «Schieben wir ihm einen Riegel!», fordert sie im Umdrehung des linken Slogans, am Sonntag geschlossen gegen Le Pen zu stimmen. Die 53-jährige, zum dritten Mal antretende Präsidentschaftskandidaten spielt die sichere, die coole Siegerin. Sie, die früher gegen alles polterte und schimpfte, wirft nun Macron vor, er werde aggressiv und verliere die Nerven.
Marine, die nicht mehr Le Pen genannt werden will, weil das irgendwie rechtsextrem klingt, gibt sich geläutert und gelassen. Ihr Schritt ist einstudiert langsamer geworden, ihre Reibeisenstimme weicher und etwas heller. Im weichen Licht einer Salonlampe erzählt sie TV-Interviewern von ihren sieben Bengalkatzen. Oder von dem Bombenattentat gegen ihren Vater, bei dem sie als Achtjährige einige Glassplitter abbekommen hatte.
Auch ihr Privatleben breitet Marine heute gerne aus, was für Frankreich sehr unüblich ist. Die Villa ihres Vaters Jean-Marie Le Pen im Pariser Nobelvorort Saint-Cloud verliess sie im Jahr 2014, nachdem sein Dobermann eine ihrer Hauskatzen verspeist hatte.
Nach drei Ehen und Lebenspartnerschaften, aus denen sie drei Kinder mitnahm, lebt sie heute mit einer Frau zusammen, die sie seit ihrer frühesten Kindheit kennt. Marine bestellt den Garten, Ingrid die Küche. Die Wohngemeinschaft funktioniere besser als mit Männern, bekennt die menschlich gewordene Präsidentschaftskandidatin:
Bereitwillig spricht sie gar von ihrem anderen Trauma, dem verpatzten TV-Streitgespräch gegen Macron im Jahre 2017.
sagt Marine herzergreifend. Ihre neue Rolle beherrscht sie, ihre Auftritte zähmt sie bis zur Selbstaufgabe. Auch politisch: Den «Frexit» hat sie nicht mehr im Programm, die Nato will sie nur noch kommandomässig verlassen. Das Kopftuchverbot auf offener Strasse bezeichnet sie nun als «komplex», das heisst undurchführbar. Auch die Todesstrafe will sie den Franzosen nicht mehr zur Volksabstimmung unterbreiten.
Gegen die Immigranten will Le Pen weiter radikal vorgehen: Franzosen sollen bei der Arbeitssuche und Sozialrechten eine «préférence nationale» (Vorrang der Nationalität) haben; nur noch ein Viertel der ausländischen Väter sollen ihre Familien nachziehen können. Über solche unschönen Dinge spricht Marine aber nicht gerne. Braucht sie auch gar nicht: Alle Franzosen wissen von früher, dass Le Pen so viel bedeutet wie Anti-Immigration. Auch ein hübscher Vorname ändert daran nichts.
Ja, die Franzosen haben immer noch Mühe, sich die Rechtspopulistin inmitten der Goldlüster und Gobelin-Wandteppiche des Elysée-Palastes vorzustellen. Mit wem würde sie regieren, wenn sogar ihre Nichte Marion Maréchal zu Le Pens Intimfeind Eric Zemmour übergelaufen ist?
Auch scheint höchst zweifelhaft, ob Le Pens marginale Partei RN im Juni die Parlamentswahlen gewinnen kann. Dann müsste die Präsidentin einen ihr nicht genehmen Premierminister ernennen, also eine «cohabitation» eingehen. Und was dann? Egal, wir sehen weiter, wenn wir im Elysée sind, sagt die Frau, die nur noch einen Vornamen haben will. (saw/aargauerzeitung.ch)