Gewerkschaften und Linksparteien rufen für Dienstag ein weiteres Mal zum Widerstand gegen die Rentenreform auf. Vor allem die Schulen und der öffentliche Verkehr werden bestreikt. Nur jeder fünfte TGV-Zug dürfte verkehren. Fernfahrer wollen zudem Autobahnzufahrten sperren. Auch Ölraffinerien dürften blockiert werden.
In 260 französischen Orten sind Demonstrationen geplant. Die Gewerkschaften treten geschlossen an und hoffen auf mehr als eine Million Teilnehmer. Diese Zahl gilt als Gradmesser für den Erfolg der Proteste. Die Vorlage wird seit Wochen im französischen Parlament diskutiert.
Der Hauptwiderstand richtet sich gegen die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre. Sie wird als sozialer Rückschritt empfunden. Zudem scheint der Moment für eine solche Reform schlecht gewählt: Seit der Covidpandemie, dem zunehmenden Homeoffice und dem Hitzerekord des Sommers '22 nimmt in Frankreich die Kritik am leistungsorientierten Gesellschaftsmodell zu. Viele junge Leute wollen weniger arbeiten - nicht mehr.
Die Gewerkschaften behaupten, die Frauen hätten in der Reform mehr zu verlieren als andere, da ihre Laufbahn und damit ihre Beitragsjahre durch die Mutterschaft häufig unterbrochen würden. Die Regierung entgegnet, sie trage diesem Umstand mit neuen Konzessionen Rechnung.
Leidtragende sind zudem Frankreichs Senioren. Sie werden von ihren Arbeitgebern häufiger als in anderen Ländern entlassen: Von den über 55-Jährigen sind in Frankreich nur 56 Prozent beruflich aktiv. Die Regierung ging erst in der Parlamentsdebatte darauf ein: Sie will Unternehmen mit Bussen anhalten, einen Mindestanteil an Senioren zu beschäftigen, und plant für sie einen speziellen Arbeitsvertrag mit Schutzwirkung.
Der unpopuläre Präsident hält sich bewusst aus der Schusslinie. Seiner Regierung gelingt es indessen nicht, das Reformziel der Bevölkerung näherzubringen. Premierministerin Elisabeth Borne hat es nicht einmal geschafft, «linke» Aspekte der Reform - wie etwa die Einführung einer Mindestrente von 1200 Euro - zu verkaufen: Bis heute ist unklar, wie weit die Ausnahmen von dieser sehr teuren Massnahme gehen werden.
Kompliziert wird die Lage für Macron auch, weil sein Lager in der Nationalversammlung keine Mehrheit hat, weshalb der Präsident auf die Schützenhilfe der konservativen Republikaner angewiesen ist. Sie stellen erstaunlicherweise vermehrt soziale Rentenforderungen. Die Macronisten verdächtigen sie, die Regierung zu Fall bringen zu wollen.
Die Gewerkschaft CGT ruft zumindest in der Pariser U-Bahn zur «unbefristeten» Fortsetzung des Streiks auf. Sie versucht generell, die Proteste von Dienstag auf die ganze Woche und vielleicht sogar darüber hinaus auszudehnen. Linkenchef Jean-Luc Mélenchon hat seine Landsleute seinerseits aufgerufen, das Land lahmzulegen. «Blockiert, so viel ihr könnt», rief er seinem studentischen Publikum zu.
Die Regierung warnt vor einer Radikalisierung der Proteste, die schnell einmal in Gewalt und Krawalle münden könnten. Das wäre kontraproduktiv. Vorläufig bleiben laut Umfragen bis zu 70 Prozent der Französinnen und Franzosen gegen die Reform. 1995 hatte Premier Alain Juppé eine ebenso unpopuläre Rentenreform nach dreiwöchigen Protesten und Sperren abblasen müssen. Macron kann sich einen Rückzieher politisch kaum leisten, stellt doch die Rentenreform das Kernstück seiner beiden fünfjährigen Amtszeiten dar. Die nächsten Tage dürften die Entscheidung bringen. Es wird ein Kampf auf Biegen und Brechen. (aargauerzeitung.ch)