Früher arbeitete sie bei einer Bank, heute vertreibt sie im Ein-Frau-Unternehmen biologische Kosmetika: Priscillia Ludosky ist eine normale, eher unauffällige Frau von 33 Jahren, wohnhaft in Savigny-le-Temple, einer gesichtslosen Vorstadt im Südosten von Paris. Nie hätte sie gedacht, dass sie eines Tages eine Volksmasse mit gereckter Faust aufpeitschen würde.
Das war am 15. Dezember 2018, auf dem Vorplatz der Pariser Oper. Vor tausenden erhitzten Demonstranten in gelben Westen packte die schlanke Frau in Dreadlocks mutig das Mikrofon. «Wir sind wütend!», begann sie mit sicherer Stimme, als hätte sie das schon immer gemacht. «Seit vierzig Jahren speisen uns die wechselnden Präsidenten mit Verrat und Lügen ab. Wir, die Gesamtheit des französischen Volkes, müssen 46 Prozent unseres Einkommens an Steuern und Abgaben abliefern. Ein Drittel des Bruttosozialproduktes fliesst in die Sozialhilfe – und trotzdem kommen die Krankenschwestern und Soldaten, Behinderten und Lehrer nicht auf ein menschenwürdiges Auskommen!»
Der Anfang war gemacht. Doch jetzt reichte Priscillia Ludosky schon das Mikro weiter. «Unsere Bewegung gehört niemandem, sie gehört allen», meinte sie zur Begründung und erntete damit Applaus und Zurufe: «Ja, niemandem!». Nun wechselten sich die folgenden Redner ab – zum Zeichen, dass die Gelbwesten keinen Sprecher wollten, und schon gar nicht einen Anführer.
In Erinnerung blieb vor allem die junge Frau, die den Reigen eröffnet hatte. Priscillia Ludosky wurde zu einem Gesicht der Gelbwesten. In den Fernsehtalkshows erzählte sie ruhig und bestimmt vom mickrigen Leben an der Peripherie der Städte und auf dem Land, vom leeren Portemonnaie am Monatsende, von den Ängsten und der Verzweiflung jener Franzosen, die zwar einen Job haben, sich aber kein Restaurant und keine Brille leisten können.
Deshalb auch hatte Ludosky von sich aus eine Internetpetition gestartet, als Präsident Macron die Benzinabgabe erhöhen wollte und dies als «Ökosteuer» deklarierte, obwohl das Geld in die allgemeine Staatskasse fliessen sollte. Über eine Million Unterschriften brachte sie in kurzer Zeit zusammen. Es war der Startschuss für die Bewegung der kleinen, vergessenen Bürger, die den mächtigen Staatschef anfangs dieses Jahres in die Knie zwangen: Emmanuel Macron musste nicht nur die Abgabe zurücknehmen, sondern insgesamt 15 Milliarden an Staatshilfen locker machen.
Kurz darauf wurde Ludosky mit ihrem militanten Mitstreiter Eric Drouet, der schon wegen Waffenbesitzes gebüsst wurde, in das Umweltministerium eingeladen. Fotos zeigen die beiden mit ernsten Mienen, umgeben von drei lächelnden Ministern. Heute muss die aus der französischen Karibikinsel Martinique stammende Frau selber darüber schmunzeln: «Die ‹petits fours› vor uns auf dem Tisch waren einfach zu gut für mich.»
Vereinnahmen lässt sich Priscillia Ludosky mitnichten. Von keiner Seite. Die Linkspartei «Unbeugsames Frankreich» umwarb sie heftig, aber erfolglos. «Die Gelbwesten dürfen keine Partei- oder Wahlpolitik machen, das wäre ihr Ende», meint die Frau. Ihre Bemerkung zielt auf andere Ur-Gelbwesten wie Jacline Mouraud und Ingrid Levavasseur, die sich von der Bewegung abgewendet haben und bei den kommenden Gemeindewahlen in Frankreich antreten wollen.
Ludosky bleibt. «Ich bin hartnäckig», lacht sie. «Wir machen weiter, solange wir müssen, das heisst, solange wir nicht erreicht haben, wofür wir kämpfen.» Und das wäre? «Mehr Kaufkraft, mehr direkte Demokratie und mehr öffentlicher Verkehr auf dem Land. Die verarmten Landbewohner sind auf das Auto angewiesen und zahlen gut 60 Prozent Steuern auf ihr Benzin – während Kerosin für die Flugzeuge zum Beispiel kaum besteuert wird. Wir bekämpfen die steuerliche Ungleichbehandlung aber generell: Kleinunternehmen zahlen in Frankreich heute 28 Prozent Betriebssteuer, die grossen Internetkonzerne wie Google oder Amazon jedoch nicht einmal ein Prozent. Das geht nicht.»
Ludosky beklagt, dass Macron weder sie noch andere Gelbwesten jemals empfangen habe. «Am besten wäre es, wenn der Präsident zurücktreten würde», meint die junge Frau. Mit ein Grund sei die Polizeigewalt gegen die Demonstranten, von denen 24 durch Gummigeschosse ein Auge verloren hätten. Auch deshalb sind die Samstagsdemos der Gelbwesten stark ausgedünnt. Selbst in ihren Bastionen Toulouse, Montpellier oder Paris gehen nur noch ein paar hundert Leute auf die Strasse. Heute Samstag werden zum Jahrestag wieder mehr Demonstranten erwartet, und die Polizei ist in Alarmbereitschaft.
1Andecolere #16Novembre #1anDeColere #17novembre #5decembre #GiletsJaunes #GiletJaunes #GiletsJaune #GiletJaune #GILETS_JAUNES #GeleHesjes #YellowVests #Acte54 Paris 16 nov 19 14h16 Bastille pic.twitter.com/AeS2VTpjhq
— camille (@camille82393901) November 16, 2019
Doch der Wind hat gekehrt. Vor einem Jahr hatte in einzelnen französischen Landstrichen jeder zweite Autofahrer aus Solidarität eine Neonweste unter der Windschutzscheibe deponiert. Heute sind laut einer Umfrage 63 Prozent der Franzosen gegen die – oft gewalttätigen – Samstagsproteste.
Wie weiter? Ludosky will irgendwo zwischen Strassenprotest und Parteipolitik eine «Bürger- Lobby» aufbauen, wie sie sagt. Am Freitag fand das erste Treffen am Stadtrand von Paris statt. «Ich glaube an die Zukunft unserer Bewegung, weil es den Leuten an den Stadträndern und auf dem Land weiter schlecht geht, während die Eliten absahnen», meint sie.
Und das sei überall so, fügt sie an – in Frankreich, wo sich seit Wochen Streiks häufen und die soziale Unrast gefährlich steigt, aber auch in anderen Ländern. Die Gilets jaunes hätten offenbar auch den Protesten in Hongkong Modell gestanden, hörte Ludosky von einem chinesischen Besucher. Auch die Demos in Libanon und Bolivien, Chile und Algerien machten klar: «Die Lage kocht überall hoch», schätzt die junge Frau, die mit ihrer Petition gegen eine Benzinsteuer alles losgetreten hatte.
Dass der Wind alles mögliche aufwirbelt, war mir bewusst. Dass er jedoch kehrt, war mir neu. Oder meinte der Autor doch eher, dass der Wind sich gedreht und das Blatt sich somit gewendet habe?