Mental liegt Frankreich näher denn je bei Marokko: Seit dem jüngsten Erdbeben berichten Pariser Fernsehstationen live und teils rund um die Uhr über die Katastrophe; alle Hilfswerke, dazu auch Städte, Departemente und Regionen sammeln Geld für die «solidarité Maroc». Die Regierung in Paris hat fünf Millionen Euro bereitgestellt. Sie mobilisierte Rettungsteams mit Spürhunden und viel Medizin.
Nur: Gestartet sind sie bis heute nicht. Marokko hat die Angebote Grossbritanniens, Spaniens, Katars und der Vereinigten Arabischen Emirate angenommen – nicht aber von Frankreich, mit dem das ehemalige Protektorat Geschichte, Sprache und zum Teil auch Kultur teilt. Rettungshelfer, die am Samstag im Nu von Paris aus gestartet waren, bleiben in Marrakesch stecken.
Warum diese absurde Situation? Politisch liegt Marokko heute Lichtjahre von Frankreich entfernt. Zwischen den zwei «Bruderländern», wie sie der aus dem Maghreb stammende Innenminister Gérald Darmanin nennt, herrscht seit Monaten Eiszeit. Der franko-marokkanische Journalist Mustapha Tossa erklärte, schuld sei in erster Linie die Weigerung Frankreichs, die Westsahara als marokkanisches Staatsgebiet zu akzeptieren.
Mehrere Länder wie Spanien haben die seit Jahrzehnten umstrittene Wüstenregion als marokkanisch akzeptiert. Paris liegt eher auf der Linie Algeriens, das die Westsahara Marokko streitig macht. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs setzt Präsident Emmanuel Macron noch stärker als bisher auf die algerische Karte, um auch Öl- und Gaslieferungen zu gewährleisten.
Macron hatte die Marokkaner schon 2022 verärgert, als er die Zahl der Visa halbierte. Das sorgte für viel Unmut in einem Land, wo die arme Bevölkerung meist nur einen Weg zu mehr Wohlstand kennt - Frankreich. Französische Touristen können dagegen nach wie vor ohne Visum nach Marokko einreisen.
Der marokkanische König Mohamed VI. hat deshalb seinen Botschafter in Paris im Januar zurückberufen. Zudem ärgerte er sich dem Vernehmen nach über ein Video, in dem er womöglich betrunken im nächtlichen Paris zu sehen ist - obwohl er als guter Muslim keinen Alkohol trinken sollte. Die marokkanischen Zeitungen berichteten keine Zeile darüber, doch via französische soziale Medien erfuhren es die Untertanen des Königs trotzdem.
Von einer Pariser Zeitung erfuhren sie zudem am Samstag, dass sich ihr König in Frankreich wegen einer Immunkrankheit hatte pflegen lassen - um nach dem Beben in aller Hast nach Rabat zurückzujetten und dort eine vom Fernsehen übertragene Krisensitzung zu inszenieren. Nun wissen die Marokkaner, warum sich ihr König fast einen Tag lang nicht über das Beben geäussert hatte.
All dies soll Mohamed so erbost haben, dass er die Franzosen nun mit seiner Ausladung bewusst zu demütigen suchte. Die französische Regierung versucht ihr Unverständnis über die Haltung des Königs zu verhehlen. Minister Darmanin bestritt wider besseres Wissen, dass in dieser Affäre «politische Gründe» mitspielten. Aussenministerin Catherine Colonna meinte ihrerseits, Marokko sei ein souveränes Land. Frankreich stehe weiter zur Verfügung, um Hilfe zu leisten. Die Ministerin nannte es einen «deplatzierten Streit».
Beidseits spielen Gefühle von Nationalstolz und zugleich von nationaler Demütigung hinein: In Marokko stört man sich daran, dass Frankreich zuerst gar nicht erst fragte, ob seine Hilfe erwünscht sei. Die Franzosen wiederum sind eingeschnappt, weil Rabat nicht sie zu Hilfe holt, sondern ausgerechnet die Briten, mit denen Paris unter anderem auch seit Kolonialzeiten eine tiefgehende Rivalität verbindet.
Das Resultat ist auf jeden Fall gravierend. In Marokko sind wohl Zehntausende von Bewohnern entlegener, jetzt abgeschnittener Dörfer seit drei Tagen ohne jede Hilfe. Dabei sind die ersten 72 Stunden nach einem Beben aber absolut ausschlaggebend – nachher kommt die Hilfe zu spät.
Leider geht's mal wieder zu Lasten der Bürger. 😔