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Gesellschaft & Politik

Titan vs. Flüchtende: Warum uns die Geschichte so stark beschäftigt

Darum interessiert uns ein verschollenes Tauchboot mehr als ertrinkende Flüchtende

Tagelang fieberten wir mit bei der Suche nach fünf Millionären, dabei sterben jedes Jahr unzählige Flüchtende auf dem Meer – die Antwort auf das Warum ist komplex.
23.06.2023, 16:0025.10.2023, 13:49
Anna Böhler
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Sind wir einfach schlechte Menschen? Wie kann es sein, dass das Schicksal von fünf Männern die ganze (westliche) Welt in Atem hält, während gerade erst letzte Woche ein Boot mit 750 Flüchtenden an Bord auf dem Mittelmeer gekentert ist? Jetzt, wo klar ist, dass die Besatzung der Titan tot ist, wenden sich die Medien genau dieser Frage zu. Ein Überblick über die Gründe, wieso der Mensch liest, was er liest.

Die gefühlte Nähe

Wenn es bei einer Geschichte um eine einzelne Person oder eine kleine Gruppe Menschen geht, ist es einfacher, als Leserin Nähe zu empfinden. Von der Titan-Besatzung kannten wir Namen und Alter und wussten, wie ihre Gesichter aussehen. Bei einer steigenden Anzahl Betroffener nimmt unser Mitgefühl jedoch immer mehr ab, wie NZZ-Journalistin Corina Gall in ihrem Kommentar schreibt.

Sie verweist dabei auf den amerikanischen Psychiater Robert Jay Lifton, der die Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber Massenleid einer Art psychischen Betäubung zuschreibt.

This photo combo shows from left, Shahzada Dawood, Suleman Dawood, Paul-Henry Nargeolet, Stockton Rush, and Hamish Harding are facing critical danger aboard a small submersible that went missing in th ...
Das war die Besatzung des Tauchboots.Bild: keystone

Die Vorstellbarkeit

Es ist ausserdem einfacher, sich in die Situation der Tauchboot-Besatzung zu versetzen, sagt die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Grit Hein gegenüber T-Online. Jeder kann sich vorstellen, wie es ist, auf engem Raum inmitten der endlosen Dunkelheit eingesperrt zu sein. Für die breite Bevölkerung ist es hingegen schwieriger, sich in die Lage einer flüchtenden Person zu versetzen, die mit Kindern und Hab und Gut aus Angst um ihr Leben alles hinter sich lässt.

Die Hoffnung

Ein weiterer Faktor, der die Menschen zum Lesen so einer Tauchboot-Geschichte anregt, ist die Hoffnung auf ein Wunder. «Die Menschen fiebern dann tagelang mit, wollen Zeugen dieses Wunders werden. Wie bei einem Film, bei dem man den Ausgang erahnt, weil er unausweichlich ist, aber doch hofft, dass es anders ausgeht», schreibt Corina Gall in der NZZ.

Der Voyeurismus

Als weitere Gründe für das breite Interesse nennt die NZZ «Voyeurismus, Häme, Zynismus». Wenn sehr reiche Männer 250'000 Dollar ausgeben für eine Spritztour hinunter zum Meeresgrund und diese scheitert, gibt es auch gewisse Zyniker, die das Geschehen mit einem Lächeln verfolgen.

Die Vermeidung

Der Fall dieser zwei Tragödien im offenen Meer zeigt weiter auf, wie gut der Mensch verdrängen kann. Yves Bossart, Moderator der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie», begründet dies wie folgt: «Beim Tauchboot sind wir unbeteiligte Beobachtende – wie im Kino. Wir können und müssen nichts tun.» Bei Nachrichten über sinkende Flüchtlingsboote jedoch sei das anders, weil man wisse, dass man selbst oder die Politik etwas unternehmen könnte und sollte.

epa02721649 Italian coastguards look on as Libyan refugees arrive on the tiny island of Lampedusa, Italy in the early hours of 07 May 2011. Coast guard officials said two vessels with 842 people on bo ...
Ein überfülltes Boot mit Flüchtenden an Bord auf Lampedusa.Bild: EPA

Die intensive Berichterstattung

Zu guter Letzt spielt natürlich auch die Berichterstattung der Medien eine Rolle. Eine Geschichte, die genügend Stoff für einen Hollywood-Film bietet, lässt sich gut erzählen. Auf der anderen Seite erreichen uns über den Sommer fast wöchentlich Geschichten von auf dem Meer sterbenden Flüchtenden. Diese erhalten wegen der schieren Menge von den Medienschaffenden sowie den Lesern deutlich weniger Aufmerksamkeit.

Hinzu kommt, dass sich die Medien «gegenseitig hochpushen», wie es Corina Gall beschreibt. Wenn ein Newsportal die Story zum Tauchboot prominent platziert, denkt die Leserin automatisch, dass die Geschichte auch objektiv betrachtet von grosser Wichtigkeit ist. Und dann ziehen auch andere Medien mit und platzieren die Geschichte ganz oben auf der Seite. «Die Klickzahlen schiessen in die Höhe, und die Medienhäuser wiederum sehen sich in ihrer Priorisierung bestätigt.» (anb)

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51 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Peter Vogel
23.06.2023 16:19registriert Juni 2020
Flüchtende gibts jeden Tag auf dutzenden Schiffen. Milliardäre die sich selber im Meer versenken nur alle paar Jahrzehnte.
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RuBisCO
23.06.2023 16:30registriert Oktober 2021
Ein Aspekt der nicht erwähnt wird, in dem konkreten Fall aber sicher auch eine Rolle spielte ist, dass dieses Unglück im Zusammenhang mit der Titanic passiert ist, deren Geschichte seit jeher fasziniert. Der Unfall an dieser Städte ist irgendwie symptomatisch für die lernresistenz der Spezies Mensch. Vernachlässigung der Sicherheit wegen Prestige und blindem Vertrauen in die Technik, dazu ein Tauchboot mit Namen Titan...
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FrancoL
23.06.2023 16:07registriert November 2015
Man kann versuchen dieses unterschiedliche Verhalten schön zu reden, aber viele wissen es, es gibt nichts schönzureden.
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