Sind wir einfach schlechte Menschen? Wie kann es sein, dass das Schicksal von fünf Männern die ganze (westliche) Welt in Atem hält, während gerade erst letzte Woche ein Boot mit 750 Flüchtenden an Bord auf dem Mittelmeer gekentert ist? Jetzt, wo klar ist, dass die Besatzung der Titan tot ist, wenden sich die Medien genau dieser Frage zu. Ein Überblick über die Gründe, wieso der Mensch liest, was er liest.
Wenn es bei einer Geschichte um eine einzelne Person oder eine kleine Gruppe Menschen geht, ist es einfacher, als Leserin Nähe zu empfinden. Von der Titan-Besatzung kannten wir Namen und Alter und wussten, wie ihre Gesichter aussehen. Bei einer steigenden Anzahl Betroffener nimmt unser Mitgefühl jedoch immer mehr ab, wie NZZ-Journalistin Corina Gall in ihrem Kommentar schreibt.
Sie verweist dabei auf den amerikanischen Psychiater Robert Jay Lifton, der die Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber Massenleid einer Art psychischen Betäubung zuschreibt.
Es ist ausserdem einfacher, sich in die Situation der Tauchboot-Besatzung zu versetzen, sagt die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Grit Hein gegenüber T-Online. Jeder kann sich vorstellen, wie es ist, auf engem Raum inmitten der endlosen Dunkelheit eingesperrt zu sein. Für die breite Bevölkerung ist es hingegen schwieriger, sich in die Lage einer flüchtenden Person zu versetzen, die mit Kindern und Hab und Gut aus Angst um ihr Leben alles hinter sich lässt.
Ein weiterer Faktor, der die Menschen zum Lesen so einer Tauchboot-Geschichte anregt, ist die Hoffnung auf ein Wunder. «Die Menschen fiebern dann tagelang mit, wollen Zeugen dieses Wunders werden. Wie bei einem Film, bei dem man den Ausgang erahnt, weil er unausweichlich ist, aber doch hofft, dass es anders ausgeht», schreibt Corina Gall in der NZZ.
Als weitere Gründe für das breite Interesse nennt die NZZ «Voyeurismus, Häme, Zynismus». Wenn sehr reiche Männer 250'000 Dollar ausgeben für eine Spritztour hinunter zum Meeresgrund und diese scheitert, gibt es auch gewisse Zyniker, die das Geschehen mit einem Lächeln verfolgen.
Der Fall dieser zwei Tragödien im offenen Meer zeigt weiter auf, wie gut der Mensch verdrängen kann. Yves Bossart, Moderator der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie», begründet dies wie folgt: «Beim Tauchboot sind wir unbeteiligte Beobachtende – wie im Kino. Wir können und müssen nichts tun.» Bei Nachrichten über sinkende Flüchtlingsboote jedoch sei das anders, weil man wisse, dass man selbst oder die Politik etwas unternehmen könnte und sollte.
Zu guter Letzt spielt natürlich auch die Berichterstattung der Medien eine Rolle. Eine Geschichte, die genügend Stoff für einen Hollywood-Film bietet, lässt sich gut erzählen. Auf der anderen Seite erreichen uns über den Sommer fast wöchentlich Geschichten von auf dem Meer sterbenden Flüchtenden. Diese erhalten wegen der schieren Menge von den Medienschaffenden sowie den Lesern deutlich weniger Aufmerksamkeit.
Hinzu kommt, dass sich die Medien «gegenseitig hochpushen», wie es Corina Gall beschreibt. Wenn ein Newsportal die Story zum Tauchboot prominent platziert, denkt die Leserin automatisch, dass die Geschichte auch objektiv betrachtet von grosser Wichtigkeit ist. Und dann ziehen auch andere Medien mit und platzieren die Geschichte ganz oben auf der Seite. «Die Klickzahlen schiessen in die Höhe, und die Medienhäuser wiederum sehen sich in ihrer Priorisierung bestätigt.» (anb)