Es war ein Ausruf mit historischer Symbolkraft. «In Gottes Namen, gehen Sie!», deklamierte der frühere Brexit-Minister und Tory-Veteran David Davis am Mittwoch im Unterhaus an die Adresse von Boris Johnson. Mit den gleichen Worten hatte der konservative Abgeordnete Leo Amery am 7. Mai 1940 den Rücktritt von Premierminister Neville Chamberlain verlangt.
Amery war ein vehementer Gegner von Chamberlains Appeasement-Politik gegenüber den Nazis, die mit dem Angriff auf Dänemark und Norwegen endgültig gescheitert war. Am 9. Mai warf der glücklose Tory-Regierungschef das Handtuch und übergab sein Amt an Winston Churchill. Tags darauf begann der deutsche Überfall auf Frankreich.
“You have sat there too long for all the good you have done, in the name of God go” Tory MP David Davis says
— BBC Politics (@BBCPolitics) January 19, 2022
“I don’t know what he’s talking about” Boris Johnson replies “I take full responsibility for everything done throughout the pandemic”
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Von solchen Zuständen ist Grossbritannien heute weit entfernt, trotz der russischen Drohgebärden gegenüber der Ukraine. Insofern wirkt Davis’ historischer Exkurs deplatziert. Wirksam war er trotzdem. Die aufsehenerregende Rücktrittsforderung habe Johnson «beschädigt», räumte Gesundheitsminister Sajid Javid am Donnerstag auf Sky News ein.
Sie zeigt das Ausmass des Unmuts in den eigenen Reihen über die Eskapaden und Skandale des Premierministers. Dieser erlebt gerade die schwierigste Zeit seit seinem Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren, auch weil seine erst sechs Wochen alte Tochter Romy ziemlich schwer an Covid-19 erkrankte. Es soll ihr inzwischen besser gehen.
Die privaten Sorgen bewahren Johnson nicht vor der Wut über die «Partygate»-Affäre um diverse Festivitäten mit reichlich Alkohol, die in seinem Amtssitz an der Downing Street Nr. 10 stattfanden, als sich das Land im Lockdown befand. Besonders verheerend war die Enthüllung über ein Gelage am Vorabend der Beerdigung von Prinz Philip im letzten April.
Damals herrschte Staatstrauer. Die Bilder der Queen, die bei der Abdankung ihres kurz vor seinem 100. Geburtstag verstorbenen Gatten wegen der Distanzregeln ganz allein auf der Kirchenbank sass, berührten die ganze Welt. Boris Johnson und seine Regierung hatten keine andere Wahl, als sich bei der Nation und der Monarchin demütig zu entschuldigen.
Die Zustimmungswerte des Premiers, der gerade wegen seines häufig lockeren Umgangs mit Regeln und Fakten beliebt war, sanken in den Keller. Aufgeben will Johnson nicht, in der Fragestunde des Parlaments am Mittwoch gab er sich kämpferisch. Dennoch halten britische Medien seinen Abgang für unvermeidlich. Dafür gibt es drei Szenarien:
Eine Gruppe von Johnson-Gegnern will eine Abstimmung in der Unterhaus-Fraktion der Tories erzwingen, um den Premier mit einem Misstrauensvotum zu stürzen. Dafür wird eine Mehrheit der Abgeordneten benötigt. Falls Johnson einen solchen «Putschversuch» übersteht, kann eine neue Abstimmung frühestens in zwölf Monaten stattfinden.
Vorerst ist der als «Pork Pie Plot» bezeichnete Versuch gescheitert. Nötig dafür ist ein Antrag von 54 Abgeordneten (das entspricht 15 Prozent der Fraktion) beim zuständigen Parteiausschuss. Dieses Quorum wurde bislang nicht erreicht, und die «Desertion» des Abgeordneten Christian Wakeford zur Labour-Opposition hat die Rebellen geschwächt.
Der Fokus richtet sich deshalb auf den Untersuchungsbericht der hochrangigen Beamtin Sue Gray zu Partygate. Er soll nächste Woche veröffentlicht werden. Falls Boris Johnson darin persönlich belastet wird, ist er kaum zu halten. Gesundheitsminister Javid räumte ein, dass Johnson zurücktreten müsse, falls der Bericht ihm Fehler nachweise.
Die Untersuchung wird zur «Stunde der Wahrheit» für den Premierminister. Kampflos wird er nicht gehen. In einem Interview am Donnerstag wich er Fragen nach Konsequenzen aus dem Gray-Bericht aus. Er spekuliert laut dem «Guardian» darauf, dass er bis Dienstag veröffentlicht werde, damit er vor der Fragestunde am Mittwoch Stellung nehmen könne.
Innerhalb der konservativen Partei wird gemäss britischen Medien auch die Meinung vertreten, man solle den angeschlagenen Regierungschef noch einige Zeit im Amt belassen. Etwa bis zu den britischen Lokalwahlen im Mai, bei denen den in den Umfragen hinter Labour zurückgefallenen Tories ein Debakel droht. Dafür solle Johnson den Kopf hinhalten.
Als «Nebeneffekt» könnte man ihm die absehbare Erhöhung der Gaspreise im April um 50 Prozent «anhängen». Sie werden im Königreich alle sechs Monate festgelegt. Schon im letzten Jahr stiegen die Preise massiv, was vor allem Geringverdiener traf. Rund 85 Prozent aller britischen Häuser werden mit Erdgas beheizt und ein Drittel des Stroms damit erzeugt.
Alles deutet somit darauf hin, dass Boris Johnson früher oder später gehen muss. Allerdings plant der Premier gemäss dem «Mirror» unter dem Codewort «Operation Red Meat» den Gegenangriff. Offenbar will er ranghohe Mitarbeiter als «Sündenböcke» für die Lockdown-Partys opfern und in der Downing Street ein Alkoholverbot verfügen.
Die britische Bevölkerung soll mit diversen Vorhaben besänftigt werden. Dazu gehören die Aufhebung fast aller Corona-Massnahmen, Unterstützung wegen der hohen Gaspreise, das Einfrieren der BBC-Gebühren, der Einsatz des Militärs gegen Migranten im Ärmelkanal und Subventionen für die von den Tories eroberten Labour-Hochburgen im Norden Englands.
Unzufriedene Parlamentarier hat Johnson laut dem «Telegraph» im persönlichen Gespräch «bearbeitet». Auch Erpressung soll im Spiel gewesen sein, wie der Johnson-Kritiker William Wragg, am Donnerstag erklärte. Regierungsmitarbeiter hätten konservativen Abgeordneten mit der Veröffentlichung kompromittierenden Materials in der Presse gedroht.
Solche Praktiken soll es schon früher gegeben haben. Der Labour-«Überläufer» Christian Wakeford sagte am Donnerstag, man habe ihm mit dem Entzug des Geldes für den Bau einer Schule in seinem Wahlkreis gedroht, falls er nicht wie gewünscht abstimme. Auch Lindsay Hoyle, der Vorsitzende des Unterhauses, zeigte sich beunruhigt.
Freiwillig zurücktreten will Boris Johnson offensichtlich nicht. Sein oft tollpatschig wirkendes Auftreten und seine wirre Frisur täuschen darüber hinweg, dass er ein skrupelloser Machtpolitiker ist. Die Häufung der Skandale aber könnte ihm zum Verhängnis werden. Die Tories müssten in diesem Fall den vierten Premierminister in nur sechs Jahren bestimmen.