«Dass es im Nahen Osten gut kommt, ist noch immer unwahrscheinlich»
Herr Fuchs, wie sehen Sie die Einigung von Scharm El-Scheich? Ist das Wort «historisch», das nun überall herumgeboten wird, gerechtfertigt?
Simon Wolfgang Fuchs: Es ist zumindest erstaunlich, in welcher Freude Palästinenser und Israeli nun vereint sind. Eine solche Zäsur hätte vor wenigen Wochen niemand erwartet. Was ein Ende des akuten Kriegszustands angeht, gibt es wohl nicht mehr viele Stolpersteine. Dafür brauchte es die USA, die ihr ganzes Gewicht in die Waagschale geworfen haben, mit Ländern wie Katar, der Türkei und Ägypten. Diese Leistung sollte man nicht zynisch kleinreden.
Lange Zeit hiess es, mit einer Terrororganisation wie der Hamas könne man nicht verhandeln, schliesslich sei ihr erklärtes Ziel die Vernichtung Israels. Hat sie nun aus taktischen Gründen eingelenkt, um Kräfte für die nächste Runde des Konflikts zu sammeln?
Zumindest macht die Hamas mit dem Abkommen einen grossen Vertrauensschritt auf die USA zu, die ja garantieren sollen, dass der Krieg nicht wieder aufflammt. Das ist schon bemerkenswert. Ihr Faustpfand, die israelischen Geiseln, gibt sie aus der Hand. Und der komplette Rückzug Israels aus dem Gazastreifen, den sie gefordert hat, wird erst einmal nicht kommen.
Steht eine der beiden Seiten als Gewinner des Abkommens da?
Das ist schwer zu sagen. Auf der einen Seite haben wir Zehntausende Tote auf palästinensischer Seite, aber auch die getöteten Geiseln und gefallene israelische Soldaten. Der Zustand gleicht im Grunde dem vor dem 7. Oktober 2023, nur dass der Gazastreifen nun vollständig zerstört ist. Eine Zukunft, in der die Israeli sicher leben können und die Palästinenser ihren eigenen Staat erhalten, ist unwahrscheinlich, auch wenn Trumps Plan dies vorsieht.
Was jene Teile des Abkommens betrifft, die über die erste Phase hinausgehen, sind Sie also pessimistisch?
Ich vermute, dass man sich bei den weiteren Verhandlungen verhaken wird. Dass die Palästinensische Autonomiebehörde im ganzen Gazastreifen die Kontrolle übernimmt, befürwortet in Israel nur eine kleine Minderheit. So stellt sich die Frage, welche Perspektive man den Menschen in Gaza bieten kann und ob vor diesem Hintergrund überhaupt jemand bereit sein wird, so viel Geld in den Wiederaufbau zu investieren, wie nötig wäre. Vielleicht wird Israel auch wieder die Kontrolle über das gesamte Gebiet übernehmen.
Sie leben in Israel. Wie wird das Abkommen dort gesehen? Freut man sich nun vor allem über die Rückkehr der Geiseln oder überwiegt die Skepsis?
Zunächst einmal herrscht Freude über die Befreiung der Geiseln, aber ich glaube, es ist auch allen klar, dass die eigentliche Arbeit noch kommt. Vielleicht hat Israel nicht unbedingt ein Interesse daran, noch weitere Kompromisse einzugehen, sondern glaubt eher, die Situation durch Stärke und technische Überlegenheit managen zu können. Vor allem werden die Israeli verhindern wollen, dass in Gaza erneut eine Terror-Infrastruktur entsteht.
Manche in Israel werfen Netanyahu vor, er habe so lange Krieg geführt, um im Amt zu bleiben und von Korruptionsvorwürfen abzulenken. Haben diese Leute recht?
Dass er seine Koalition zusammenhalten wollte, hat sicher eine Rolle gespielt. Aber er glaubte wohl auch, dass er der Einzige sei, der Israel durch diese Zeit führen und dabei dem internationalen Druck standhalten könne. Jetzt könnte sich das Augenmerk der Öffentlichkeit wieder stärker auf die Verfahren richten, in denen er angeklagt ist. Zuletzt haben auch im Regierungslager einige eingesehen, dass sich der Krieg nicht fortsetzen lässt: Wegen der Weltöffentlichkeit, aber auch wegen des Zustands der eigenen Armee und der wirtschaftlichen Kosten. Die weiteren Verhandlungen wird Netanyahus Koalition wohl nicht überleben, denn was nun geschehen soll, ist das Gegenteil dessen, was seine Regierung als Kriegsziel propagiert hat.
Wie sehen Sie die Vorwürfe gegen die israelische Kriegsführung? Die schärfsten Kritiker reden von einem Genozid.
Für die Frage, ob es sich um einen Genozid handelt, ist entscheidend, ob es den Israeli darum ging, so viele Palästinenser wie möglich zu töten. Da habe ich, wenn ich die israelische Diskussion betrachte, meine Zweifel. Was man den Israeli aber vorwerfen muss, ist, dass ihnen zivile Opfer egal waren: Man wollte sie nicht sehen und beging sicher auch Kriegsverbrechen. Das Zurückfahren der humanitären Hilfe, die Blockade des Gazastreifens und die systematische Zerstörung von Spitälern und Schulen würde ich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachten.
Netanyahus Koalition, so meinten Sie, gehe wohl zu Ende. Wie sieht seine persönliche politische Zukunft aus? Werden seine Landsleute ihm die Rückkehr der Geiseln gutschreiben?
Die Regierung wird nun behaupten, es sei immer ihre Priorität gewesen, die Geiseln freizubekommen. Aber ich denke, diese Erzählung wird nicht verfangen, weil den Israeli klar ist, dass man diesen Deal schon vor einem Jahr hätte abschliessen können, mit viel mehr lebenden Geiseln. Auch nach dem Angriff auf Iran schnellten Netanyahus Umfragewerte nicht nach oben. Seine Partei, der Likud, dürfte zwar stark bleiben, aber ihren Status als stärkste Kraft wird sie wohl verlieren, sodass seine Tage als Premier gezählt sein könnten.
Netanyahus Verteidiger könnten argumentieren, dass sich die Hamas auf Zugeständnisse eingelassen habe, spreche dafür, dass das harte militärische Vorgehen richtig gewesen sei. Israel hat sie, salopp gesagt, an den Verhandlungstisch gebombt.
Das spielt sicher eine Rolle, und die Hamas macht ja sehr weitreichende Zugeständnisse, etwa, dass sie nun alle Geiseln auf einmal freilässt und nicht sonderlich viel dafür bekommt. Entscheidend ist für mich aber eher der fehlgeschlagene israelische Versuch, jegliche Verhandlungen durch die Tötung der Hamasspitze in Katar unmöglich zu machen und allein auf eine militärische «Lösung» zu setzen. Im Nachgang hat Trump andere Töne angeschlagen, Israel scharf kritisiert und Katar ein neues militärisches Beistandsabkommen angeboten. Nur durch amerikanischen Druck ist Israel an den Verhandlungstisch zurückgekehrt.
Könnte sich Israels Politik entscheidend ändern, wenn Netanyahu nicht mehr im Amt ist? Und wer könnte auf ihn folgen?
Als möglicher Nachfolger wird Naftali Bennett gehandelt, der schon einmal Ministerpräsident war und weniger ideologisch getrieben ist als Netanyahu. Auch er hat sich allerdings klar dagegen ausgesprochen, einen Palästinenserstaat zu schaffen und der Palästinensischen Autonomiebehörde mehr Macht zu geben. Der Ton könnte sich also ändern, doch die schleichende Annexion der Westbank dürfte weitergehen. Dass Israel seine jetzige Politik entscheidend ändert, ist unwahrscheinlich. (aargauerzeitung.ch)