Herr Galland, wie würden Sie die Sprengung des Kachowka-Dammes qualifizieren?
Franck Galland: Für mich ist es eine Katastrophe, eine Tragödie mit ungeheuren Folgen - humanitären, ökologischen und wirtschaftlichen. Der Kachowka-Staudamm ist einer der grössten Osteuropas. Selbst wenn der Krieg morgen wie durch eine Wunder zu Ende ginge, würde man die Folgen des Dammbruchs noch jahrzehntelang spüren. Eine Überschwemmung bewirkt kolossale Schäden an der gesamten Infrastruktur, an Häusern, elektrischen Leitungen, Brücken, Schienen. Öl aus Tanks und Tankstellen kommt frei, auch Abwasser. Da in den Fluten auch Personenminen schwimmen, besteht Lebensgefahr. Es ist das erste Mal seit den Weltkriegen, dass die Bevölkerung über lebenswichtige Infrastruktur angegriffen wird. Der Wiederaufbau wird Jahre in Anspruch nehmen.
Wie weit werden die Schäden gehen?
In der Stadt Cherson, 60 Kilometer flussabwärts, wo vor dem Krieg 300'000 Einwohner lebten, steigt der Wasserstand weiter. Er dürfte bald anderthalb Meter erreichen, mit all den Langzeitschäden. Die Folgen des Dammbruches werden aber bis ins Schwarze Meer spürbar sein. Die maritimen Ökosysteme werden stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Das gilt für das Gebiet um die Kriminsel und trifft damit auch Russen, darüber hinaus aber auch Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres wie Rumänien und Bulgarien.
Ist mit der Dammsprengung eine neue Dimension des Krieges erreicht, wie der deutsche Kanzler Olaf Scholz sagte?
Es ist auf jeden Fall eine neue Eskalationsstufe - und das in einem Konflikt von hoher Intensität, der schon Zehntausende von Toten gefordert hat. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Wenn jemand ohne drängende militärische Notwendigkeit eine humanitäre und Umweltkatastrophe dieses Ausmasses schafft - wozu ist er dann noch fähig? Zu einem Angriff auf ein Atomkraftwerk?
Ist die Damm-Zerstörung ein Kriegsverbrechen?
Zweifelsohne, denn sie verletzt auf massive Weise Völkerrecht, sie zerstört Geschichte. Ich erinnere mich an eine sowjetische Briefmarke aus dem Jahr 1951, von einer Serie, die grosse Werke des Kommunismus feierte. Der Damm am Dnjepr, unter Chruschtschow erstellt, galt inklusive des Wasserkraftwerkes als aussergewöhnliches, emblematisches Bauwerk, das die Landwirtschaft der Südukraine und zudem die Krim mit Wasser versorgte. All das ist nun vorbei, auf Null reduziert. Hier wird die Ukraine um 80 Jahre zurückgeworfen. Das ist wirklich eine Katastrophe.
Die Urheberschaft ist noch ungeklärt. Laut einer Theorie könnte es sich um einen Unfall gehandelt haben, unvorsichtigerweise durch Russen verursacht, die ein blockiertes Schleusentor sprengen wollten.
Auch darüber herrscht keinerlei Gewissheit. Sicher ist, dass es kein Amateurjob ist, einen Damm wie diesen zu zerstören. Dazu ist nur eine Armee oder zumindest eine gut ausgerüstete Gruppe in der Lage. Der türkische Präsident Erdogan verlangt eine internationale Untersuchungskommission. Wir werden sehen.
Fragen wir also, wem das Verbrechen nützt ...
Militärisch betrachtet wurde eine weitere lebenswichtige Infrastruktur der Ukraine getroffen. Wir wissen, dass Russland seit letztem Herbst Kraftwerke aufs Korn nimmt, dazu Kraftwerke und Stromleitungen, auch Stationen zur Trinkwasserproduktion. Das sind vorsätzliche Kriegsakte gegen die Zivilbevölkerung, und sie stehen in völligem Widerspruch zu den Genfer Konventionen von 1949 und den Zusatzprotokollen von 1977.
Sind Dammzerstörungen darin konkret erwähnt?
Artikel 15 untersagt es ausdrücklich, Staudämme, andere Dämme und Atomkraftwerke anzugreifen. Und seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist das auch nicht mehr passiert, jedenfalls nicht auf eine so gezielte und vorsätzliche Art. Im Vietnamkrieg bombardierten die Amerikaner Erdwälle ihres nordvietnamesischen Feindes aus der Luft, was direkte und Kollateralschäden an den Bauten bewirkte. Das hat aber nichts zu tun mit den Vorgängen um den ukrainischen Damm: Er wurde gezielt mit Sprengungen oder Hochpräzisionswaffen zerstört, was einen Maximalschaden bewirkt.
Im Krieg im Irak vor ein paar Jahren ging nicht einmal die Terrormiliz des Islamischen Staates so weit, lebenswichtige Stauseen zu zerstören.
Die IS hätte den Saddam-Staudamm oberhalb der Zwei-Millionen-Stadt Mossul sprengen können, was einen Tsunami bis in die Stadt mit zahllosen Toten bewirkt hätte. Dazu ist es nicht gekommen. Dieser grösste Damm des Landes, der 45 Prozent der nationalen Elektrizität liefert, steht noch heute.
Die Dammzerstörung knüpft also eher an die Praktiken des Zweiten Weltkriegs an?
Jawohl. Die britische Royal Air Force zerstörte 1943 mit eigens entwickelten Rollbomben zwei Staudämme an den Flüssen Möhne und Eder, was riesige Schäden bis 80 Kilometer unterhalb des Dammes bewirkte. Mehrere tausend Menschen kamen um. Churchill sagte später, es sei einer seiner schwierigsten Kriegsbefehle gewesen.
Putin dürfte weniger Gewissensbisse haben.
Nicht zu vergessen, damals herrschte ein Weltkrieg, in dem alle Mittel angewandt wurden. Es ging darum, die Welt vom Joch der Nazis zu befreien. Das erwies sich bekanntlich als so schwierig, dass die Amerikaner zum Schluss sogar Atombomben über Japan zündeten. Was den Deutschen bei diesen Dammzerstörungen passierte, war tragisch, daran besteht kein Zweifel. Jetzt wiederholt sich das Ganze in der Südukraine. Der Krieg kehrt nach Europa zurück, und mit ihm die Brutalität des Zweiten Weltkrieges.
Lässt der Dammbruch den Schluss zu, dass sich die Russen bedrängt fühlen, wenn sie zu so extremen Mitteln greifen?
Ob es die Russen waren, wird eine internationale Untersuchung ergeben. Und wenn sie es waren, stellt sich die Frage: Wer hat den Befehl gegeben, wer hat ihn ausgeführt? Und: Waren Wagner-Söldner involviert, der Generalstab, der Kreml? Mich erinnert diese Affäre an den Absturz der MH17-Maschine. Der Prozess hat die Verantwortlichkeit geklärt und klargemacht, dass es russische Separatisten im Donbass waren, die auf das zivile Flugzeug schossen und Passagiere und Besatzungsmitglieder umbrachten.
Können sich die Russen von der Sprengung des Damms einen militärischen Nutzen erhoffen?
Ja, denn die Flutwelle schafft an der Front eine eigentliche Wassersperre, die auf ungefähr 100 Quadratkilometer fast unüberwindbar ist. Die Ukrainer können also kaum mehr über den Dnjepr setzen; zudem müssen Armeekräfte mithelfen, die Bevölkerung zu evakuieren. Die Russen erhalten also auf der 700 Kilometer langen Front eine natürliche Verteidigungslinie von knapp 100 Kilometern. (aargauerzeitung.ch)
Es ist äusserst unwahrscheinlich das die Ukrainer sich das selber antun würden.