Im Konflikt zwischen der Hamas und Israel passieren seit Wochen schreckliche Dinge, wie verfolgen Sie das Geschehen im Nahen Osten?
Andreas Maercker: Mit grosser Anteilnahme. Ich war in den vergangenen 25 Jahren immer mal wieder in Israel und Palästina. Und weil ich als Deutscher auch den Hintergrund der Geschichte von Nazi-Deutschland mit dem Holocaust im Kopf habe. Ich versuche das aber schon zu kanalisieren. Morgens mache ich meine Zeitungsschau, abends verfolge ich nochmals die Nachrichten. In der Zwischenzeit versuche ich, keine Medien zu konsumieren.
Wie in vielen anderen Konflikten sind auf beiden Seiten auch Kinder betroffen. Wie gehen Kinder damit um, wenn nahestehende Familienmitglieder, zum Beispiel ihre Eltern, sterben?
Es ist so, dass in der Öffentlichkeit bei so einem Konflikt oft die Kinder thematisiert werden, die besonders leiden. Andererseits ist es eine Lehre der Psychotraumatologie, dass Kinder – psychisch und langfristig – häufig gar nicht so stark beeinträchtigt werden, wie es bei Jugendlichen und Erwachsenen der Fall ist. Kinder sind in der Lage, Traumata relativ schnell zu verarbeiten, wenn – das ist ganz wichtig – die eigenen Bezugspersonen nicht zusammenbrechen. Wenn die eigenen Bezugspersonen schwer leiden, ist dies für Kinder das Schlimmste. Ansonsten können Kinder selbst den Tod von Angehörigen zum Teil besser verarbeiten als andere Altersgruppen.
Welche Altersgruppe ist am meisten von Traumata betroffen?
Zum einen Menschen in der sogenannten Sandwich-Position, die eine Verantwortung nach unten tragen für ihre Kinder, aber auch nach oben für ihre Eltern. Kurzfristig erleben diese Personen Traumata gar nicht so ausgeprägt, langfristig sind sie aber diejenigen, die unter vielen psychischen und körperliche Erkrankungen leiden und nur sehr schlecht ertragen, dass sie eine schwierige Phase mit Traumafolge erleben mussten.
Und die zweite Gruppe?
Das sind die Jugendlichen – die leiden teilweise sehr stark daran, dass ihre Angehörigen in einem Konflikt oder Krieg verletzt oder getötet worden sind. Im Teenageralter graben sich Traumata häufig sehr tief ein und haben lang andauernde Folgen.
Inwiefern gehen Kinder mit traumatischen Erlebnissen anders um als Jugendliche und Erwachsene?
Kinder haben ein naives Todeskonzept. Sie denken beispielsweise, dass sich jemand im Himmel, in den Wolken befindet, der sie beobachtet. Oder daran, dass diese Person wieder lebendig wird. Dieses Denken trägt Kinder durch schreckliche Zeiten, wie aktuell im Nahen Osten. Es ist kein Zufall, dass man Kinder auf Fernsehaufnahmen, sei dies in Israel oder in Gaza, lachen und zwischen Trümmern herumhüpfen sieht. Jugendliche und Erwachsene hingegen können oft nicht einfach so zwischendurch in den Fröhlichkeitsmodus schalten.
Sind Kinder gar nicht von Traumata betroffen oder einfach viel weniger?
Weniger. Man sollte diese Erkenntnisse aber auch nicht nur am Konflikt Israel-Gaza aufhängen, die beobachten wir überall. Als Vertreter der klinischen Psychologie und Psychiatrie haben wir es aber noch nicht geschafft, auch die Medien davon zu überzeugen, dass in einem Krieg nicht die Kinder am meisten leiden.
Ab wann gilt man als traumatisiert?
Nach den neusten Begriffsdefinitionen gilt man als traumatisiert, wenn man ausgeprägte psychische Reaktionen hat, sei dies kurz- oder langfristig. Betroffene Personen können sich kurzfristig in einer Schreckstarre befinden, sie können eine Denkblockade haben, ihr Weinen und Schreien nicht beherrschen. Langfristige Folgen sind beispielsweise eine Dauererregbarkeit und dauerhafte Ängste.
Spielt das Thema Resilienz im gegenwärtigen Krieg im Nahen Osten eine Rolle? Was trägt dazu bei?
Definitiv. Wir kennen diverse Faktoren, die zu Resilienz beitragen. Es spielt allein schon eine Rolle, ob eine Person aus professionellen Gründen, etwa als Soldat, Polizist oder Rettungssanitäter, an einem Schreckensszenario wie einem Krieg beteiligt ist oder nicht. Ein anderer Faktor ist das Umfeld. Hat man ein enges, soziales Umfeld, wo man sich aufgehoben fühlt, hilft das sehr. Im individuellen Fall können wir jedoch schlecht vorhersagen, wer resilient sein wird und wer nicht.
Es fliegen nicht zum ersten Mal Raketen in den Gazastreifen, ist man da als Bewohner irgendwann abgestumpft?
Das ist von Person zu Person verschieden. Abstumpfen als solches betrifft meistens nur eine zeitliche Etappe, manchmal auch nur einige Tage, und dann erlebt man ein erneutes schreckliches Ereignis, wieder wie das erste, und empfindet es als grässliche Gewalterfahrung. Abstumpfen ist definitiv kein Dauerzustand.
Kann man bezogen auf den Krieg im Nahen Osten von Generationentraumata reden?
Für die intergenerationale Weitergabe von Traumata – auch im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts – haben wir viele Belege. Für die israelischen Juden stammen die Traumata aus der Holocaust-Verfolgung, die sie in Europa Mitte des 20. Jahrhundert erlebten. Das Gefühl, besonders gefährdet zu sein, haben deshalb auch Vertreter der weiteren Generationen von Juden. Bei den Palästinensern, die seit 1950 vom Staat Israel an die Ränder gedrückt und in Dauerflüchtlingslager versetzt werden, ist eine Traumatisierung zu beobachten, die ebenfalls seit vielen Generationen anhält. Auch, weil immer wieder Palästinenser umgekommen sind. Das trägt dazu bei, dass Hass bis heute existiert und Versöhnung so fürchterlich schwierig ist.
Sind Kinder aber auch Erwachsene ab einem gewissen Mass an Traumata überhaupt noch therapierbar?
Grundsätzlich gibt es für jede Art von Traumatisierung, auch langfristige, immer eine Möglichkeit auf Erfolg. Manchmal reicht aber selbst eine Psychotherapie nicht aus. Hinzu kommt, dass – mit Bezug auf den Krieg im Nahen Osten – eine Therapie ja auch nicht immer in einer gefahrenlosen Umgebung stattfindet. Diese andauernde Bedrohung sorgt auch dafür, dass eine Psychotherapie in einigen Fällen keinen Erfolg zeigt.
Spielt der Zeitpunkt eine Rolle, wann eine Psychotherapie beginnt?
Da gibt es zwei Ansätze. Zunächst geht es um eine sogenannt psychische Nothilfe, die dient als Prophylaxe und läuft ganz anders ab als eine Psychotherapie. Es handelt sich dabei um eine Betreuungsmassnahme, die auch durch psychologisch geschulte andere Berufspersonen erfolgen kann. Sogar Laien kann man für diese psychologische Nothilfe ausbilden. Psychotherapien hingegen beginnen in der Regel erst ein halbes Jahr oder noch später nach einem traumatischen Ereignis, bei denjenigen Personen, die starke Traumafolgen haben. Meistens sind traumatisierte Personen auch erst dann bereit, mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten zu reden. Bei den anderen kommt die angesprochene Resilienz zum Tragen. Diese ist aber nie sofort da, sondern tritt erst nach einigen Tagen, Wochen oder sogar Monaten ein.
Kann psychotherapeutische Hilfe im Konfliktgebiet im Nahen Osten aktuell überhaupt gewährleistet werden?
In beiden Ländern, Israel und Palästina/Gaza, ist das möglich. In Israel ist die psychische Nothilfe recht gut aufgestellt durch die langjährige Bedrohung des Landes. Ich wurde von israelischen Kollegen auch kontaktiert, weil die wissen wollten, was die neusten Diagnostikmöglichkeiten sind. Ein Beispiel ist eine Triage, da wird der Belastungsgrad einzelner Menschen erfragt und dann geschaut, wer eine intensivere Betreuung braucht und wer vielleicht gar keine.
Und in Palästina/Gaza?
Da ist das Betreuungsangebot nur wenig ausgeprägt und die entsprechende Infrastruktur dürfte jetzt auch teilweise zerstört worden sein. Aber auch in Palästina/Gaza gab und gibt es mehr psychotraumatologisch geschulte Ärzte und Psychologinnen als in anderen Ländern. Auch weil die Bedrohung seit längerem anhält und weil internationale Unterstützung vorhanden war, eine Psychotraumatologie aufzubauen.
Gibt es in einer Situation wie dem Krieg nun im Nahen Osten einen Punkt der Resignation, wo Menschen derart traumatisiert sind, dass sie den Glauben an das Gute gänzlich verlieren?
Das Interessante ist, dass beides passieren kann. Dass man völlig den Glauben an das Gute im Menschen verliert, aber auch, dass der Glaube an Gutes entstehen kann. Durch das extreme innerliche Aufgeriebensein kann es zu einer Umordnung der Werte kommen, die man bislang im Leben hatte.
Sie haben das Thema Hass vorhin angesprochen. Welche Rolle spielt Hass in einem Konflikt wie demjenigen im Nahen Osten?
Hass spielt auf zwei Ebenen eine grosse Rolle. Auf individueller Ebene ist er ein Korrelat der dauernden Gedanken daran, dass hoffentlich nichts passiert. Da kann Wut und Hass ganz leicht entstehen, dies kann man bei allen Arten der Traumatisierung beobachten. Auf der gesellschaftlichen Ebene zementiert der Hass die politische Ablehnung der anderen Seite bis hin zum Vernichtungswillen. Diese Form des Hasses kann von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Kann man als Person, die beispielsweise Familienmitglieder durch kriegerische Handlungen verloren hat, überhaupt anders, als Hass zu schüren?
Das kommt definitiv vor. Es gibt Menschen, die einen Angehörigen durch Kriminalität oder politische Gewalt verloren haben und den Tätern trotzdem die Hand reichen. Wut und Hass sind sicher häufiger, aber ein Durchbrechen des Gewaltzyklus gibt es ebenso.
Wie ist das zu erklären?
Durch Persönlichkeitsfaktoren, die sehr verschieden sein können. Menschen sind mehr oder weniger gutmütig, um ein Beispiel zu nennen. Aber auch situative Faktoren spielen eine Rolle. Etwa die Unterstützung, die man in einem traumatisierenden Moment erfährt.
Bei all den massakrierten Kibbuzen handelt es sich um stark linksliberale Communitys. Viele davon engagierten sich Zeit Lebens für Friedenslösungen, spendeten an paläst. Hilfsorganisationen, organisierten monatliche Überführungen für kranke Palästinenser zu med. Behandlung in Israel usw.
Wenn du dich ein Leben lang für Leute einsetzt & es dir dann so zurückgezahlt wird, zerbricht dein Weltbild wohl so ziemlich in tausend Stücke...