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Sicherheitsexpertin ist sicher dass den USA hinterherlaufen nichts bringt

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Sicherheitsexpertin: «Den USA hinterher zu laufen, bringt uns nicht weiter»

Die deutsche Sicherheitsexpertin erklärt im Interview, was die nächsten Schritte von Russlands Präsident Wladimir Putin sein könnten und wie sich Europa am besten darauf vorbereitet.
22.06.2025, 13:1722.06.2025, 13:17
Remo Hess / ch media
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Wir treffen Claudia Major in einem Hotel in der Brüsseler Innenstadt. Die Agenda der deutschen Sicherheitsexpertin ist zum Bersten voll: An der Konferenz des «German Marshall Funds» treten neben Keith Kellogg, dem Ukraine-Gesandten von US-Präsident Donald Trump, eine Vielzahl anderer hochkarätiger Gäste auf. Gleich muss Major auf die Bühne. Trotzdem nimmt sich eine gute halbe Stunde Zeit für CH Media, um ihre Sicht auf Trump, die Nato und Putins Krieg gegen die Ukraine zu erklären.

Sie sind quasi von Berufswegen Transatlantikerin. Letzte Woche liess US-Präsident Donald Trump die Armee in Los Angeles einmarschieren. Am Samstag sind bei einer Militärparade Panzer durch Washington gerollt. Was denken Sie: Wie kommen diese Bilder bei den Europäern an?
Claudia Major
: Diese Bilder wirken auf die meisten Europäer zutiefst verstörend. Aber sie sind nur die jüngsten in einer ganzen Serie an Irritationen, die dieser Präsident und seine Regierung schon ausgelöst haben. Zum Beispiel die Rede von Vize-Präsident JD Vance in München, wo er gesagt hat, die grösste Gefahr für den Westen sei nicht China oder Russland, sondern die Bedrohung im Innern. Oder Trumps demonstrativer Neustart mit Russlands Präsident Wladimir Putin und die Demütigung Selenskis im Oval Office. Vor diesem Hintergrund wirken Panzer und Soldaten in den Strassen von Washington bedrohlich. Viele Europäer haben das Gefühl, dass es mit dieser Regierung keine gemeinsame Basis mehr gibt.

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«Wir mögen nicht zu hundert Prozent wissen, ob die Amerikaner kommen. Aber Moskau weiss es auch nicht», sagt Sicherheitsexpertin Claudia Major zur US-Beistandsgarantie für Europa.Bild: keystone

Einige Beobachter sprechen davon, dass die USA in Richtung Autokratie abdriften. Wie sehen Sie das?
Die demokratischen Strukturen in den USA sind tief verankert, aber die Sorge ist berechtigt. Schon in Trumps erster Amtszeit gab es Versuche, demokratische Kontrollmechanismen zu beschränken. Jetzt wirken die Massnahmen besser vorbereitet. Macht wird beim Präsidenten konzentriert und die autokratischen Züge werden stärker. Aus transatlantischer Perspektive muss besonders Sorge bereiten, dass sich die USA immer weniger als Allianz-Partner, sondern als Grossmacht verstehen, die mit anderen Mächten das Weltgeschehen regelt.

Was sind die Konsequenzen für Europa?
Wir haben kaum Einfluss auf Washington, aber auf unsere eigene Politik. Ständig den USA hinterherzulaufen, bringt uns nicht weiter. Europa muss souveräner denken und handeln. Wir müssen eigene Ziele formulieren, statt nur auf US-Entscheidungen zu reagieren.

Zur Person
Claudia Major (49) gehört zu den profiliertesten Sicherheitsexpertinnen im deutschsprachigen Raum. Sie ist regelmässig zu Gast in deutschen Fernsehsendungen wie «Maischberger». Seit März 2025 ist die promovierte Politikwissenschaftlerin Senior Vice President für Transatlantische Sicherheitsinitiativen des «German Marshall Funds», der bekannten Denkfabrik zur Förderung transatlantischer Beziehungen.

Aber bei der Verteidigung kommt Europa nicht um die USA herum.
Kurz- und mittelfristig ja. Ohne amerikanische nukleare Abschreckung, ohne politische Führung, ohne zentrale Fähigkeiten wie Aufklärung und Raketenabwehr könnte sich Europa nicht so verteidigen, wie es jetzt in den Nato-Plänen angelegt ist. Selbst wenn jetzt alle investieren und das konstant halten könnten, dauert es Jahre, bis europäische Eigenständigkeit möglich ist. Das macht es schwer, sich von den USA zu lösen – selbst wenn man es politisch wollte. Im Moment sind die USA noch unsere Lebensversicherung.

Fragt man Amerikaner, ob sie noch zur Nato stehen, heisst es neuerdings: «Wie oft wollt ihr es noch von uns hören?». Aber was würde passieren, wenn im Baltikum wirklich «Grüne Männchen» auftauchen würden?
Abschreckung findet im Kopf des Gegners statt. Putin muss verstehen, dass sich ein Angriff nicht lohnt. Aber genauso wichtig ist die Rückversicherung der Alliierten. Wenn Trump mit Putin scheinbar Freundschaft schliesst, wächst natürlich die Unsicherheit. Das heisst nicht, dass es das nicht schon gab. Beim Irak-Krieg teilte die Bush-Regierung die Alliierten in ein «Altes Europa» und «Neues Europa» ein. Die Spannungen waren erheblich. Aber jetzt haben wir einen nuklear untermauerten Krieg zwei Flugstunden von Berlin entfernt. Der Punkt ist: Wir mögen nicht zu hundert Prozent wissen, ob die Amerikaner kommen. Aber Moskau weiss es auch nicht. Das ist unser momentaner Vorteil. Wäre ich Putin, würde ich jedenfalls keine Grüne Männchen schicken, solange im Baltikum noch US-Soldaten stationiert sind. Ich glaube aber, dass es ohnehin eher ein anderes Szenario sein wird.

Welches?
Die Grünen Männchen kennen wir schon von der Krim. Das ist nicht mehr neu. Die Frage ist: was für ein Szenario würde uns überraschen? Was wäre, wenn plötzlich ein Zug, der von Russland in die russische Enklave Kaliningrad unterwegs ist, mitten im litauischen Nirgendwo entgleist? Putin könnte sagen, wir schicken jetzt Soldaten zur Bergung des Zuges, die ohnehin in Weissrussland in der Nähe sind. Vielleicht ein paar Tausend. Litauen würde protestieren, aber die russischen Soldaten wären schon da. Und wie würde die Nato reagieren? Ziel Russlands ist es, eine «graue» Situation zu schaffen, die unterschiedlich interpretiert werden kann und eine uneinheitliche Reaktion unter den Alliierten provoziert. Es geht darum, die Nato vorzuführen und zu spalten. Wir sollten uns auf Überraschungen gefasst machen.

In this photo released by the Roscongress Foundation, Russian President Vladimir Putin speaks at a plenary session of the St. Petersburg International Econimic Forum in St. Petersburg, Russia, Friday, ...
Kreml-Chef Wladimir Putin.Bild: keystone

Die russische Grossübung «Zapad» (Westen) mit mutmasslich Zehntausenden Soldaten findet schon diesen September in Belarus statt. Wäre das ein Vorwand, ein «graues Szenario» zu schaffen?
Solange Russland die Abschreckung der Nato ernst nimmt, bleibt die Gefahr begrenzt. Aber wenn Moskau glaubt, dass die Nato oder einzelne Staaten nicht reagieren würde, kann es sehr schnell ernst werden. Die baltischen Staaten sagen, wir lassen kein «graues Szenario» zu, sondern machen es ganz schnell schwarz oder weiss.

Viele europäische Politiker betonen jetzt oft ihren Friedenswillen, obwohl klar ist, dass Putin gar nicht verhandeln will. Ist das naiv – oder strategisch klug?
Die Aufforderung zum Frieden ist ein politisches Signal an Trump, dass Europa seine Bemühungen unterstützt. Zweitens ist es eine gezielte Botschaft an die eigene Bevölkerung. Und es ist ja die Wahrheit, natürlich wünschen wir uns alle Frieden, vor allem die Ukraine. Führt es uns aus der Sackgasse? Nein. Russland scheint Gespräche gerade als ein anderes Mittel zum Sieg anzusehen, seine Positionen haben sich verschärft. Aber die westliche Positionierung erlaubt es, klar zu zeigen: Wir wollen Frieden. Wenn Russland das ablehnt, ist es leichter, internationale Unterstützung zu mobilisieren. Klar ist: Der Krieg endet irgendwann am Verhandlungstisch, aber die Bedingungen dafür entstehen auf dem Schlachtfeld.

Angenommen, es käme zum Frieden: Russland hat hunderttausende kampferprobte Soldaten unter Waffen. Was passiert mit denen?
Erst wenn Russland die Ukraine als souveränen Staat anerkennt, ist Frieden wirklich möglich. Solange Russland aber an seinen Zielen festhält und die militärischen Mittel dafür hat, solange ist es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis Putin erneut angreift. Aber selbst wenn: Die russische Armee wird nicht verschwinden, sondern sich neu positionieren. Ein Ende des Krieges bedeutet deshalb nicht das Ende der Bedrohung. Zentral ist, ob sich die russischen Ziele geändert haben. Europa muss also weiterdenken, über den Tag hinaus.

Also müssen Deutschland und Europa die Rüstungsanstrengungen weitertreiben, selbst wenn ein Frieden in der Ukraine gelingen würde?
Ja. Ich befürchte aber, dass genau das Gegenteil passieren könnte. Sobald der Krieg vorbei ist, könnte in Deutschland gefragt werden: Wozu noch Verteidigung? Dann wird der politische Druck gross, weniger Geld ins Militär zu investieren. Und auch die Frage der Absicherung des Waffenstillstands in der Ukraine wird hinten runterfallen. Das sieht man schon jetzt, wenn gewisse SPD-Politiker wieder sagen, es gebe keine Bedrohung. Und man wolle den Frieden in Europa bewahren. Für die heisst das folglich, die Ukraine gehört nicht zu Europa.

Als Bundeskanzler Merz in Washington war, witzelte Trump, es sei gut, dass Deutschland aufrüste – aber bitte nicht zu viel. Steckt da etwas dahinter - gibt es auch Sorgen in Europa über ein hochgerüstetes Deutschland?
Nein, im Gegenteil. Mein Eindruck aus vielen Gesprächen in Europa ist: Die Erwartungen an Deutschland sind riesig. Frankreich trauen manche Europäer nicht ganz, Grossbritannien hat Finanzprobleme. Viele europäische Staaten sehen in Deutschland das zentrale Land, auf das sie sich verlassen können. Bedenken gibt es unter den Deutschen selbst, sonst scheint es in Europa keine Angst vor deutscher Stärke zu geben, solange sie europäisch eingebettet ist.

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Friedrich Merz bei seinem Besuch im Weissen Haus.Bild: keystone

Was passiert eigentlich, wenn Europa seine militärische Stärke wieder erlangt hat? Wird es dann zur weltweiten Ordnungsmacht?
Wenn Ordnungsmacht heisst, internationales Recht zu verteidigen, etwa die Freiheit der Seewege zu schützen, dann wäre das wünschenswert. Niemand redet über expansive Strategien. Was die Europäer heute machen, das ist lediglich wieder in ihre Lebensversicherung einzuzahlen. Rein defensiv. Hier besteht Einigung. Davon abgesehen finde ich Begriffe wie eine «Europäische Armee» nicht hilfreich. Wer soll denn der Befehlshaber einer solchen Armee sein – die Kommissionspräsidentin oder der Nato-Generalsekretär? Gegenüber welchem Parlament wäre der Einsatz zu verantworten? Die Verteidigung ist der letzte grosse Souveränitätsbereich, der den europäischen Nationalstaaten noch bleibt. Und das dürfte noch lange so bleiben. Die Schweiz würde ja auch nicht die Entscheidung über Sterben und Töten ihrer Landsleute an jemanden weiterdelegieren.

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Rannen
22.06.2025 14:14registriert Januar 2018
Das ist richtig, der Westen muss sich von der Autokratie distanzieren und Selbstständig werden und ein Gegengewicht zu den Amis und Russen bilden. Die Partnerschaft mit den Amis ist tot auch wenn viele das noch nicht sehen
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