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Interview

Ukraine: Menschen leiden auch an Weihnachten unter dem Krieg

People enjoy Christmas Eve around the Christmas tree at the foot of St.Sophia Cathedral as Russia's missile attack warning sounds in Kyiv, Ukraine, Tuesday, Dec. 24, 2024. (AP Photo/Efrem Lukatsk ...
Putin und seine Schergen nehmen keine Rücksicht auf die ukrainischen Weihnachtsfeierlichkeiten – im Gegenteil. Bild: keystone
Interview

«Ich wünschte, meine Kinder würden von Autos oder Fussball träumen»

Oksana Brovko ist wegen des Krieges aus Kiew in den Westen des Landes geflohen. Verlassen will sie die Ukraine auf keinen Fall. Im Gespräch mit CH Media erzählt sie vom persönlichen Dilemma vieler Journalisten – und von einem Raketeneinschlag nur wenige Meter vor ihr.
25.12.2024, 07:45
Natasha Hähni / ch media
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Es ist Weihnachtszeit, für viele Menschen bedeutet das, Geschenke einkaufen und Weihnachtsmärkte besuchen. Wie sieht diese Zeit für Sie aus?
Oksana Brovko: Viele Traditionen sind auch während des Krieges gleich geblieben. Wir essen und singen an Weihnachten immer noch mit der Familie, was schön ist. Wir gedenken neu aber auch derjenigen, die wir im Krieg verloren haben. Ausserdem kommt es vor, dass man das Weihnachtsshopping unterbrechen muss, weil ein Raketenalarm losgeht. Die Sicherheitsfrage bestimmt immer noch den Alltag.

Die aktuellen Entwicklungen rund um den Krieg im Überblick:

Sie sind zu Beginn des Krieges von Kiew in die Westukraine gezogen, nach Lwiw. Wie stark spüren Sie den Krieg hier?
Es ist immer noch sehr gefährlich. Die Russen greifen wichtige Infrastrukturen im ganzen Land an. Bei einer Freundin von mir, nicht weit von hier, wurde gerade ein Elektrizitätswerk getroffen. Sie hat seit zwei Wochen keinen Strom. Bei mir in der Nähe gibt es einige Gasspeicheranlagen. Die werden ab und an angegriffen.
Letztens stand ich am Bahnhof und sah, wie sieben Raketen nur zwei Kilometer von mir entfernt auf den Boden prallten. Ich war wie eingefroren. Zeit, um zu einem Bunker zu rennen, hatte ich sowieso nicht. Natürlich ist die Situation näher an der Front deutlich schwieriger, aber einen wirklich sicheren Ort gibt es in der Ukraine zurzeit leider nicht.

Oksana Ukraine
Oksana Brovko gibt Schulungen für Lokalredaktionen in der Ukraine.Bild: AZ/zvg

Wie reagieren Sie normalerweise auf einen Raketenalarm?
Wenn meine jüngeren Kinder (6, 8 und 9 Jahre alt) zu Hause sind, muss ich sie anziehen. Alleine das dauert – vor allem im Winter. Sind sie in der Schule, muss mein Mann oder ich sie abholen. Mit den Notfalltaschen – darin sind unsere Dokumente, Medizin, Ladegeräte, Schlüssel, Wasser und Snacks – gehen wir dann zum Bunker. Der ist bei uns in der Tiefgarage. Dort bleiben wir, bis es Entwarnung gibt. Während des Raketenalarms darf man ausserdem den Lift im Gebäude nicht brauchen. Wir müssen acht Stockwerke hinunterlaufen. Das ist mühsam. Und die Alarme ertönen oft. Manchmal sind wir einfach zu müde. Es ist schrecklich, aber ich habe manchmal einfach das Gefühl, ich habe nicht genug Energie. Gerade für Familien mit vielen oder kleinen Kindern ist der Aufwand jedes Mal enorm.​

Haben sich Ihre Kinder schon an den Krieg gewöhnt?
Sie verstehen immer noch nicht, wieso Menschen andere Menschen töten. Mein Jüngster fragt mich fast jeden Abend, wieso das passiert. Eine Antwort habe ich bis heute nicht. Ich verstehe es ja selber nicht – vor allem auf persönlicher Ebene. So viele von uns haben Verwandte in Russland. Mittlerweile sind meine Kinder aber sehr patriotisch. Sie haben ein komplett anderes Leben als ich in ihrem Alter. Es macht mich traurig, dass sie ihre Kindheit nicht so geniessen können wie ich. Wenn er gross ist, will mein 6-Jähriger Häuser wiederaufbauen, die zerstört wurden. So wie das seiner Grossmutter. Mein 8-Jähriger will Soldat werden.

Ich wünschte, sie würden von Autos oder Fussball träumen.

Mehr als jedes Geschenk wünschen sie sich zu Weihnachten, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, die sie wegen des Krieges verlassen mussten. Gestern sagte mein 6-Jähriger zu mir, er wolle zurück nach Hause, in die Nähe des Waldes. So wie es vor dem Krieg war. Das ist schmerzhaft zu hören, denn den Wunsch kann ich ihm nicht erfüllen.

In Ihrer Rolle als Vorsteherin der unabhängigen Regionaljournalisten arbeiten Sie mit Journalistinnen und Journalisten in der ganzen Ukraine zusammen. Einige von ihnen sind in der Nähe von oder an der Front. Was hören Sie von ihnen?
Über 90 ukrainische Journalistinnen und Journalisten sind während des Krieges bereits getötet worden. Weitere wurden von Russen entführt. Viele lokale Redaktionen mussten aus Sicherheitsgründen schliessen. Sie führen ihre Arbeit aber in den meisten Fällen aus anderen Orten fort. Eine der grössten Veränderungen ist aber überall, dass die meisten Männer aus den Redaktionen verschwunden sind. Sie sind an der Front. Während sie sicher dem grössten Risiko ausgesetzt sind, hat ihre Absenz aber auch Auswirkungen auf diejenigen, die noch arbeiten.

Viele haben Burn-outs, sie arbeiten fast rund um die Uhr.

Gerade bei einem Raketenangriff ist jeder Journalist und jede Journalistin zudem im selben Dilemma: Berichte ich darüber oder gehe ich zu meiner Familie? Wie entscheide ich das? Vor zwei Tagen gab es in meiner Heimatstadt Saporischschja mehrere Einschläge. Rund zwei Dutzend Menschen kamen ums Leben. Natürlich musste jemand darüber berichten.

Die Journalisten wussten dabei aber nie, wann und wo die nächste Rakete landet.

Ich habe das Glück, dass mein Ehemann nicht an der Front ist und von zu Hause arbeitet. In den meisten Fällen kann ich also arbeiten und er holt die Kinder von der Schule. Mein ältester Sohn (22) hilft ebenfalls mit.

Wie hat sich die Arbeit für Journalisten im Krieg verändert?
Früher war die wichtigste Frage, die sich ein Lokaljournalist stellen musste, immer: Ist die Nachricht wichtig für die lokale Bevölkerung? Heute folgen auf diese Fragen noch zwei weitere: Kann die Information gefährlich für die lokale Bevölkerung sein? Und welchen Einfluss könnte die Nachricht auf das ukrainische Militär haben? So sortieren wir einige Geschichten aus.​

Können Sie ein Beispiel nennen?
Wenn eine Rakete ein Wohngebäude trifft, das in der Nähe eines Militärgebäudes steht. Die Rakete hat in dem Fall wahrscheinlich ihr Ziel verfehlt. Wenn wir gleich darüber berichten, könnten das die Russen sehen – und eine zweite Rakete abschiessen, die dann vermutlich das «richtige» Gebäude trifft.

Gerade in Frontnähe und in besetzten Gebieten spielt Propaganda eine grosse Rolle. Wie gehen Sie damit um?
Das Lieblingsthema der russischen Propagandamaschine ist aktuell die Mobilisierung des ukrainischen Militärs. Es gibt etliche Telegram-Kanäle mit falschen oder übertriebenen Informationen zum Thema. Leute würden, nur Tage nachdem sie ins Militär einberufen worden sind, reihenweise getötet, lautet zum Beispiel eine der Geschichten. Ihr einziges Ziel ist es, die ukrainische Bevölkerung zu verunsichern. Alles, was wir tun können, ist, die Wahrheit zu berichten und zu hoffen, dass es die Menschen erreicht. Die Arbeit ist sehr aufwendig. Eine kürzlich durchgeführte Recherche zeigte auf, dass über 2000 russische Tiktok-Accounts Desinformation zum Thema verbreiten.​

Wie hat sich die Rolle der Medien in der Ukraine mit dem Krieg noch verändert?
Zu Beginn des Krieges drehte sich unsere gesamte Berichterstattung um den Krieg. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Die Leute wollen zurück ins «richtige Leben» kommen. Neben Berichten von der Front berichten deshalb auch viele wieder über Kultur und Soziales.

Es ist zu einer unserer wichtigsten Aufgaben geworden, den Menschen etwas Normalität zurückzugeben.

Es sind auch Themen dazugekommen, die vorher nicht oder viel weniger wichtig waren. Viele Menschen leben seit dem Krieg mit körperlichen und psychischen Einschränkungen. Geschichten über behindertengerechte Infrastruktur und über Themen wie den Umgang mit Trauma sind viel häufiger geworden. Ausserdem hat mittlerweile fast jede Redaktion einen Beerdigungsreporter. Die Berichterstattung über die Menschen, die für unser Land gestorben sind, ist sehr wichtig für die lokale Bevölkerung. Es ist aber auch eine der anspruchsvollsten Stellen.

Eine grosse Herausforderung sind zudem Korruptionsgeschichten. Vor allem, weil wir seit dem Krieg fast vollständig von Spenden und Zuschüssen abhängig sind.

Was erhoffen Sie sich vom kommenden Jahr?
Die Russen haben dieses Jahr sehr viel Land von uns genommen. Ohne die Hilfe anderer Länder können wir dieses nicht mehr zurückgewinnen. Wir hoffen natürlich auf die Unterstützung der USA und Europas. Ich habe dieses Jahr, wie in jedem seit Beginn des Krieges, tolle neue Freunde aus der ganzen Welt kennengelernt. Menschen, die einen aus anderen Ländern unterstützen, fragen, wie es uns geht. Es fühlt sich an, als wären wir Teil einer grösseren Familie. Diese Freundschaften möchte ich weiterpflegen. (aargauerzeitung.ch)​

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