Seine Initialen gelten in den USA als Synonym für den Kampf gegen Rassismus: MLK – Martin Luther King. Der junge Pastor aus Alabama führte die Bürgerrechtsbewegung in den 60er-Jahren an. Er wurde 1968 erschossen. Sein ältester Sohn mit gleichem Namen führt sein Erbe weiter.
Was denken Sie, wie würde sich Ihr Vater fühlen, wenn er die aktuellen Proteste in den USA sehen würde?
Martin Luther King III: Er wäre sehr enttäuscht von dem, was nicht erreicht wurde, seit er die Welt verlassen hatte. Leider konnte er seine Arbeit nicht beenden. Er würde aber bestimmt einen Weg finden, um die Menschen zusammenzubringen. Das geschieht momentan aber auch ohne ihn.
Was wäre heute anders, wenn er 1968 in Memphis nicht einem Attentat zum Opfer gefallen wäre?
Wenn mein Vater und Vertreter der Bürgerrechtsbewegung wie Bobby Kennedy nicht ermordet worden wären, hätten wir uns früher mit diesen Problemen auseinandergesetzt. Mein Vater nannte es die drei Übel, die wir aus der Welt schaffen müssen: Armut, Rassismus und Militarismus, wobei ich lieber von Gewalt spreche als von Militarismus.
Ex-Präsident Barack Obama sagte, diese Proteste fühlten sich anders an als die Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre. Zurecht?
Der Fall von George Floyd hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Diese unmenschliche Tat, dieser hässliche Mord. George Floyd müsste noch immer am Leben sein. Aber der Polizist entschied, sein Knie für 8 Minuten und 46 Sekunden auf seinen Hals zu drücken, so dass George Floyd nicht atmen konnte. Wir haben gesehen, wie sein Leben den Körper verliess. Das hat Proteste in der ganzen Welt entfacht, so wie ich es noch nie gesehen habe. Vor 50 Jahren waren es vor allem Schwarze und manche Weisse, die protestierten. Heute ist es anders, oft sind sogar mehr Weisse auf den Strassen.
Ihr Vater hatte bekanntlich einen Traum, den Traum der Gleichberechtigung aller Bürger, unabhängig ihrer Hautfarbe. Dieser Traum bleibt bis heute unerfüllt. Weshalb?
Mein Vater und Bobby Kennedy hatten Ende der 60er-Jahre vorhergesagt, dass die USA in den nächsten zwanzig Jahren einen schwarzen Präsidenten wählen würden. Es dauerte etwas länger. Aber die Wahl von Barack Obama bedeutete leider nicht, dass wir den Rassismus hinter uns gelassen hatten. Das Hauptproblem ist, dass der Rassismus strukturell ist. Also müssen wir unsere Strukturen, unsere Institutionen ändern. Es braucht Schulungen für Themen wie Diversität, Einfühlungsvermögen und soziale Beziehungen, vom Kindergarten bis hin zur Hochschule.
Manche sagen, Rassismus sei schlimmer geworden, andere meinen, nun werde er bloss gefilmt. Und Sie?
Es stimmt, Tragödien wie jene von George Floyd hat es immer gegeben, das weiss die schwarze Gemeinschaft in den USA nur zu gut. Aber heute können wir alles jederzeit mit einem Smartphone festhalten und innert Sekunden online weiterverbreiten. Und nun ist auch die weisse Bevölkerung erwacht. Das Klima wurde allerdings durch unseren Präsidenten angeheizt. Die Dinge, die er sagt, hören sich rassistisch an. Dabei sollte er für mehr Einheit sorgen, um die Situation zu beruhigen.
Würden Sie Donald Trump als rassistisch bezeichnen?
Ich sage, dass er mit seinen Aussagen Rassismus befeuert. Ich weiss nicht, wie sein Herz aussieht. Aber seine Taten und Aussagen entsprechen solchen von Rassisten. Und Rassisten unterstützen ihn. Es gibt Video-Beweise, dass manche von ihnen an den Plünderungen und Gewalttaten mitgewirkt haben und verhaftet wurden. Aber der Präsident sagt, er habe keine Kenntnis davon. Damit sagt er ihnen: Macht ruhig, was ihr wollt! Seine Rhetorik ist rassistisch. Dabei müsste ein Präsident alle Bürgerinnen und Bürger ansprechen, nicht nur seine Wähler. Aber er schafft das nicht, oder er will es gar nicht.
Präsident Trump hat gedroht, das US-Militär gegen das eigene Volk einzusetzen. Um den Weg frei zu machen für ein PR-Bild mit einer Bibel in der Hand, wurden friedliche Protestierende vor dem Weissen Haus mit Tränengas beschossen. Was ging Ihnen dabei durch den Kopf?
Ich spürte einen grossen Schmerz, als ich das sah. Das waren friedliche Protestierende. Hätte man sie gebeten, wegzugehen, hätten sie das wohl getan. Aber er benutzte Gewalt. Er stand vor die Kirche für dieses Bild, aber er sprach nicht mit den Priestern. Jedermann kann vor eine Kirche stehen und ein Foto von sich machen. Aber wenn man ehrenhaft und seriös ist, dann spricht man mit den Kirchenvertretern. Ich weiss nicht, ob er taub ist oder ob es ihm einfach egal ist. Niemand ist ihm wichtig, ausser er selbst. Er ist ein selbstsüchtiger Mensch.
Ihr Vater wurde Opfer davon, als Sie gerade mal zehn Jahre alt waren. Was sind Ihre Erinnerungen an diesen Tag?
Es war Donnerstag, der 4. April 1968. Um etwa sieben Uhr abends hörten wir in den Nachrichten, dass Martin Luther King angeschossen wurde. Meine Geschwister und ich rannten ins Elternzimmer. Meine Mutter hatte bereits einen Anruf erhalten und bereitete sich vor, um nach Memphis zu reisen. Sie wurde an den Flughafen gefahren, wo der Bürgermeister auf sie wartete. Er lief auf sie zu und sie sah in seinem Gesicht, dass er keine guten Nachrichten für sie hatte. Mein Vater hatte das Attentat nicht überlebt. Sie kam dann nach Hause und weckte uns. Meine Schwester Bernice war fünf Jahre alt, mein Bruder Dexter war sieben, ich war zehn und meine Schwester Yolanda war zwölf.
Was sagte Ihre Mutter?
Sie sagte uns, dass unser Vater bei Gott ist und er uns nicht mehr physisch umarmen und küssen könne, so wie er es immer getan hatte, aber dass wir ihn irgendwann wieder sehen werden. Er habe Gott und der Menschheit gedient, und nun habe ihn Gott zu sich nach Hause geholt. Ich stellte keine Fragen und akzeptierte es. Es war der schmerzlichste Moment, die grösste Tragödie in meinem Leben, in unserem Leben.
Und die Zeit danach?
Vieles änderte sich stark. Wir hatten Sicherheitsleute bei uns im Haus. Und viele Politiker kamen zu uns, um zu kondolieren. Leute wie Bobby und Ted Kennedy, Jacky Onassis, Richard Nixon oder Aretha Franklin. Die Nation ging in Flammen auf, in über 100 Städten gab es Proteste. Dabei hatte sich mein Vater stets für friedlichen Widerstand eingesetzt, er war gegen Gewalt. Doch es war Gewalt, die ihn umbrachte, die wiederum zu mehr Gewalt führte. Das hätte er nicht gewollt, aber er hatte Verständnis für die Wut. Er sagte jeweils: Gewalt ist die Sprache jener, die nicht erhört werden, auch wenn er selber eine friedliche Art der Konfliktlösung bevorzugte.
Die Welt erinnert sich an Martin Luther King als Kämpfer der Bürgerrechte. Wie behalten Sie ihn als Vater in Erinnerung?
Mein Vater war wie ein Spielkamerad. Ich erinnere mich an einen Tag, wie er vor unserem Haus die Treppe rauf kommt. Wir Kinder sehen ihn, stehen hinter dem Fenstervorhang, er sieht uns aber nicht. Ich sehe sein Gesicht noch genau vor mir, wie erschöpft er aussah, so müde von all seinen Reisen. Aber sobald er unser erblickte, sprühte er plötzlich vor Energie und lachte. Er war so glücklich, seine Kinder zu sehen. Wir spielten oft Football oder Baseball mit ihm, fuhren Fahrrad. Einmal pro Woche gingen wir in den Sportclub, wo er uns das Schwimmen beibrachte. Er hatte nicht viel Zeit für uns, aber die Zeit, die wir mit ihm verbrachten, war einzigartig. Es war unglaublich schön.
Ihr Vater war der klare Anführer der Bürgerrechtsbewegung in den 60er-Jahren. Bräuchte es eine solche Figur auch heute?
Ich bin kein Fan von Bewegungen mit einem Messias-ähnlichem Anführer. Wir alle müssen Anführer sein. Wenn es einen solchen oder eine solche heute gäbe, wären die Ziele der Bewegung vielleicht klarer formuliert. Aber die Welt ist auch so erwacht durch den Mord an George Floyd. Mein Vater sprach jeweils von der schweigenden Mehrheit. Zentral im Kampf für Gleichheit ist nicht die Feindseligkeit unserer Gegner, sondern das Schweigen unserer Freunde. Jetzt sind unsere weissen Freunde erwacht. Zu zigtausenden.
Dabei kam es auch zu Plündereien und Gewalt gegen Polizisten.
Ja, auch dieses Mal gab es Gewalt und Frustration, aber die absolute Mehrheit der Proteste sind friedlich, auf der ganzen Welt. Dieser Moment kann zu einer tektonischen Verschiebung in unserer Gesellschaft führen. Es muss so kommen, denn die Leute werden dieses Verhalten nicht mehr akzeptieren. Es braucht jetzt Massnahmen.
Sie haben es gesagt: Diese Fälle von Polizei-Brutalität sind nicht neu. Es gab die Morde an Rodney King, Oscar Grant oder Michael Brown, um nur drei zu nennen. Oft folgten grosse Proteste. Was macht Sie so sicher, dass es sich dieses Mal um einen echten Wendepunkt in der Geschichte handelt?
Ich bin Optimist und ich hoffe. Aber ich sehe auch die Zeichen der Zeit. Die Welt wurde noch nie so sehr mobilisiert im Kampf gegen Rassismus. Zum ersten Mal steht die stille Mehrheit auf und kämpft mit uns. Das wird den Unterschied ausmachen.
Und wenn nicht?
Nochmals: Wir Schwarzen können das Problem nicht alleine lösen. Es braucht ein Kollektiv von Amerikanern. Und die Politiker werden auf uns hören müssen. Der Wandel liegt jetzt in der Luft, aber wir müssen ihn am Leben erhalten. Wenn wir morgen mit den Protesten aufhören, ändert sich vielleicht nichts. Ich bin aber sicher, dass die Politiker nicht mehr gewählt werden, wenn sie jetzt nicht handeln. Und wir Bürger müssen mobilisieren, organisieren, Strategien erarbeiten und uns für die Wahlen registrieren. Dieses Jahr werden wohl so viele Leute wie lange nicht mehr an die Urne gehen.
Welche Verantwortung haben Grosskonzerne?
Auch sie müssen sich bewegen, ein Bekenntnis geben und sagen: Das hier ist falsch, das hier ist ungerecht und wir akzeptieren das nicht. Die Konzerne können es sich nicht leisten, zu warten.
Inwiefern?
Schwarze haben letztes Jahr eine Billion Dollar in den USA ausgegeben. Wir könnten unsere Kaufkraft auch anderswo einsetzen. So wie 1955, als Schwarze aus Protest in Montgomery, Alabama, 381 Tage lang keine Busse mehr benutzten, nachdem Rosa Parks verhaftet wurde, weil sie ihren Sitz einem weissen Passagier nicht freigab. (Anm. der Red.: Martin Luther King war damals einer der Anführer dieses Boykotts und wurde damit als junger Pastor aus Alabama landesweit bekannt)
Rassismus gibt es überall, auch in der Schweiz. Vor einigen Jahren gab es hier politische Plakate mit schwarzen Schafen, die von weissen Schafen aus dem Land gekickt werden. Und viele Menschen sagen: Ich bin nicht rassistisch, das geht mich nichts an. Was ist Ihre Botschaft an diese Leute?
Dieses Thema, dieser Kampf betrifft alle Menschen auf diesem Planeten. Wie gehen wir mit Mitmenschen um? Es geht um Würde für uns alle. Man kann nicht mehr bloss an der Seitenlinie stehen und zuschauen.
Auch nicht neutrale Schweizer?
Auch sie nicht. Man muss ja nicht immer auf die Strasse gehen. Man kann auch von zuhause aus protestieren, via E-Mail, Instagram oder Tik-Tok. So viele Menschen waren nach dem Video von George Floyds Mord zutiefst bewegt und verletzt. Manche mögen sagen, das geht mich nichts an. Aber das ist einfach falsch. Denn wir sind alle miteinander verbunden. Mein Vater sagte immer: Ungerechtigkeit an irgendeinem Ort bedroht die Gerechtigkeit an jedem anderen. Das ist die Wahrheit. Wenn jemand schlecht behandelt wird, egal wo, ist es unsere Pflicht, das anzusprechen.
Ihr Name ist weltweit bekannt. Dabei war Ihre Mutter dagegen, dass Sie gleich heissen sollen wie Ihr Vater. War der grosse Name Martin Luther King für Sie eine Last? Wenn es eine Last gegeben hätte, habe ich sie nicht gespürt.
Ich fühle mich demütig, Teil dieser Tradition zu sein. Ich fokussiere mich auf das Positive. Ich wurde von meiner Familie und meiner Gemeinschaft so erzogen. Mein Vater wurde von einem Weissen erschossen, meine Grossmutter von einem Schwarzen. Ich hätte viele Menschen hassen können, aber ich wählte den Weg der Liebe und der Vergebung. Meine Frau sagt mir jeweils: Wir müssen für Wandel beten, für ihn arbeiten und wir müssen der Wandel sein. Und wenn Liebe noch nicht gewonnen hat, dann ist die Schlacht noch nicht vorbei.
Danke
kurze anmerkung-frage: sind es 1 billion dollar oder 1 mia.?
Da englisch und deutsch diese beiden verwechseln, 10^9 wird dort als billion bezeichnet hier milliarde und umgekehrt mit 10^12