Der Druck auf Pokrowsk steigt – noch halten die Ukrainer stand
Schon im Spätsommer 2024 evakuierte die Ukraine Pokrowsk, damals eine Stadt mit 60'000 Einwohnern, vor den vorrückenden russischen Truppen. Seither schien der Fall der mittlerweile stark zerstörten Bergbaustadt in der umkämpften Oblast Donezk schon mehrmals unmittelbar bevorzustehen – doch den ukrainischen Verteidigern gelang es bisher jedes Mal, das Stadtzentrum und die Nachschubwege unter Kontrolle zu behalten.
Russische Soldaten in Pokrowsk eingesickert
Nun verkündet der Kreml aber seit Tagen, Pokrowsk stehe kurz vor der Einnahme. An der wichtigsten Zufahrtsstrasse zur belagerten Festungsstadt konnten russische Soldaten die russische Fahne aufhängen – damit schien klar, dass die ukrainischen Verteidiger in der Falle sassen. Und auch die ukrainische Armee hatte gemeldet, rund 200 russische Soldaten seien durch die Verteidigungslinien in die Stadt eingesickert und hätten sich dort festgesetzt.
Ukrainische wie russische Militärblogger berichten übereinstimmend, dass immer mehr russische Soldaten von Süden in das Zentrum vordringen. Die Russen lieferten sich Strassenkämpfe mit ukrainischen Truppen, schrieb der militärnahe ukrainische Blog «DeepState». Die ukrainischen Nachschubwege sind laut dem Nachrichtenportal Ukrajinska Prawda (UP) komplett von russischen Drohnen kontrolliert, die elektronisch nicht gestört werden können.
Pokrowsk bereits eingekesselt?
Mit etwa 11'000 Mann versuche die russische Armee, nordwestlich und nördlich der Stadt vorzurücken und so den Rückzug der ukrainischen Verteidiger zu verhindern. Damit solle ein Kessel geschlossen werden, teilte das 7. Korps der ukrainischen Armee auf Facebook mit. Insgesamt sollen in diesem Gebiet von russischer Seite 27’000 Soldaten, 100 Panzer, 260 gepanzerte Fahrzeuge und 160 Artilleriesysteme im Einsatz sein.
Der russische Armeechef, General Waleri Gerassimow, behauptete in einem Fernsehgespräch mit Präsident Wladimir Putin sogar, dass 31 ukrainische Bataillone bei Pokrowsk und Kupjansk bereits umzingelt seien. Diese Aussage bezweifelten jedoch selbst russische Militärblogger, die normalerweise jeden Erfolg hochspielen. Der niederländische Militärexperte Peter Wijninga kommentierte Gerassimows Behauptung in der Zeitung Het Parool wie folgt:
Die russische Flagge bei der Zufahrtsstrasse wurde übrigens schnell von einer ukrainischen Drohne gesprengt. Und nach wie vor gibt es laut Kyiv Independent von Westen her einen schmalen ukrainischen Korridor von etwa drei Kilometern Breite, durch den Nachschub ins Zentrum von Pokrowsk und von dort weiter in die Stadt Myrnohrad gelangt, die zusammen mit Pokrowsk eine grosse Agglomeration bildet. Sollte Pokrowsk fallen, ist der Brückenkopf Myrnohrad kaum noch zu halten.
Verringerte strategische Bedeutung
Pokrowsk wird in der Regel als wichtiger logistischer Knotenpunkt für die Ukraine bezeichnet, dessen Fall der russischen Armee den Weg nach Westen in die Nachbarregion Dnipro öffnen würde. Doch seit Beginn der Kämpfe um die Stadt vor mehr als einem Jahr hat sich deren strategische Bedeutung verändert. Die Versorgung ukrainischer Fronttruppen erfolgt mittlerweile über andere Routen, oft mit Drohnen.
Zudem hat die ukrainische Armee nordwestlich der Stadt eine neue Verteidigungslinie aufgebaut, die das Vordringen der Russen weiter bremsen soll:
Ukraine will propably keep fighting in Pokrovsk as long as possible and then withdraw when they view the situation too risky, like they did in Kursk, for example
— Tomi 🇺🇦🇫🇮🇪🇺 (@TallbarFIN) October 28, 2025
Retreating from Pokrovsk would not lead to breaktroughs, strong fortified defense lines are waiting some km's behind. pic.twitter.com/RJ7t54iT3b
Der Fall der Stadt dürfte daher nicht zu einem massiven Durchbruch der russischen Streitkräfte nach Westen führen. Auch der Fall von Bachmut im Mai 2023 hatte den Russen nicht – wie zuvor verschiedentlich befürchtet – weitere grosse Geländegewinne ermöglicht.
Langsamer Vormarsch
Stattdessen rückt die russische Armee seit Herbst 2023 an der Front im Osten der Ukraine nur sehr langsam vor – und erkauft die Geländegewinne mit hohen Verlusten.  Zwar ist etwa ein Fünftel der Ukraine unter russischer Besatzung, einschliesslich der 2014 annektierten Halbinsel Krim. Doch in diesem Jahr eroberten russische Truppen nach Berechnungen des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) gerade einmal 0,6 Prozent der Landesfläche der Ukraine. Noch immer kontrollieren die russischen Streitkräfte ein deutlich kleineres Gebiet als noch vor der ukrainischen Gegenoffensive im Herbst 2022.
Allerdings wäre eine russische Eroberung von Pokrowsk ein symbolischer Sieg – wie auch damals in Bachmut. Für Putin wäre es der grösste militärische Triumph seit zwei Jahren. Den würde der Kreml mit Sicherheit auch propagandistisch ausschlachten und für seine psychologische Kriegsführung nutzen, die sich auch gegen die westlichen Unterstützerstaaten der Ukraine richtet.
Neue Art der Kriegsführung
Nachdem die ukrainischen Truppen im Juli russische Soldaten aus der Stadt gedrängt hatten, die dorthin vorgedrungen waren, erfolgten bereits im August neue Angriffe. Im Gegensatz zu früher handelte es sich jedoch nicht mehr um massive Angriffe in Wellen, bei denen die russischen Soldaten buchstäblich als Kanonenfutter geopfert wurden. Vielmehr waren es nun eher kleine Einheiten – mitunter sogar nur Duos – die sich zwischen den ukrainischen Verteidigungsposten durchzuschleichen versuchten, Schwachstellen suchten, Verwirrung stifteten und sich wieder zurückzogen.
Diese Art der Kriegsführung hat sich die russische Armee von ukrainischen Kommandos abgeschaut. Die Folge davon ist allerdings, dass der Krieg immer mehr zu einem Kampf zwischen Drohnen geworden ist. Mittlerweile würden die meisten Opfer durch Drohnen fallen, nicht mehr durch Artilleriebeschuss, sagt Militärexperte Wijninga gegenüber «Het Parool». «Alles, was fährt, ist jetzt ein Ziel», so Wijninga. «Russische Drohnen jagen Autos, verfolgen sie sogar auf Nebenstrassen, manchmal gesteuert durch künstliche Intelligenz.»
Es gehe dementsprechend auch nicht mehr so sehr um Quadratmeter am Boden, um die die Infanterie kämpfe, sondern um «Kubikmeter Luft», stellt der Militärexperte fest. «Die unterste Luftschicht – bis zu 50, 60 Meter über dem Boden – ist das neue Kampfgebiet. Wer dort das Sagen hat, kann mit seinen Drohnen frei agieren. Infanteristen müssen also nicht nur das Gelände beherrschen, sondern auch den Luftraum über ihren Köpfen.» Diese neue Denkweise müssten auch die Armeen des Westens lernen. «Die Drohne ist zur neuen Gruppenwaffe der Infanterie geworden. Das verändert alles.»
- «Lukoil ist am Ende»: US-Sanktionen setzen Russland zu
- Russische Militärblogger bezeichnen Putins Generalstabschef als Lügenbaron
- Orban will Bund gegen Ukraine mit Tschechien und Slowakei
- «Eines der dümmsten Systeme»: Putins Wunderrakete überzeugt Experten nicht
- Depression, Angstörung, Alkohol: Russische Soldaten kehren traumatisiert von Front zurück


