International
Russland

Putin erhält von Generalstabschef geschönte Frontberichte

Russische Militärblogger bezeichnen Putins Generalstabschef als Lügenbaron

Erneut erhält der Kreml-Herrscher von der eigenen Armee offensichtlich geschönte Frontberichte. Russische Militärexperten machen sich ihren eigenen Reim darauf.
28.10.2025, 21:0228.10.2025, 21:02
Bojan Stula / ch media

Russlands Generalstabschef ist inzwischen nicht nur international gesucht wegen Kriegsverbrechen, sondern im eigenen Land zunehmend als Lügenbaron verschrien. Die jüngste Kostprobe seiner Lageberichte lieferte Waleri Gerassimow im TV ab: In einem am vergangenen Sonntag ausgestrahlten Rapport behauptete der 70-jährige Armeegeneral, Russland habe an den Brennpunkten im Ukraine-Krieg fast 50 feindliche Bataillone eingeschlossen und zudem weitere bedeutende Gebietseroberungen errungen.

In this photo, taken from video distributed by Russian Defense Ministry Press Service on Saturday, Aug. 30, 2025, Russian Chief of General Staff Gen. Valery Gerasimov speaks during a meeting with high ...
Waleri Gerassimow.Bild: keystone

Wladimir Putin, selbst erst zum dritten Mal seit Kriegsausbruch im Tarnanzug abgebildet, nickte zustimmend. International machte diese öffentliche Lagebesprechung «an einem geheimen Stützpunkt» wegen Putins Ankündigung zum neuen, angeblich «unbesiegbaren» Atom-Marschflugkörper Burewestnik Schlagzeilen. Unter Analysten sorgte aber auch Gerassimows Lagebericht für Aufsehen – einmal mehr.

Wenig überraschend schrieb anschliessend das US-Analysezentrum Institute for the Study of War (ISW), man habe «keine Evidenz zur Untermauerung der Aussagen» gefunden; die angeblich eroberten Ortschaften seien winzig und militärisch unbedeutend. Bemerkenswert aber ist, dass selbst die in der Regel sehr kremltreuen und kriegstreiberischen Militärblogger die Aussagen des eigenen Generalstabschefs in der Luft zerfetzen.

Wann werden die Gefangenen durch Moskau geführt?

So kommentiert der Telegram-Kanal Romanov Light: «Einmal mehr entspricht die gemeldete Information nicht der Lage vor Ort.» Der Kanal Tactical Medical Courses fragt sarkastisch:

«Wenn ich sage, Gerassimow lügt – diskreditiere ich damit die Armee? Oder diskreditieren seine Worte die Armee?»

Mehrere russische Militärblogger beschreiben die augenblickliche Frontlage als «porös» und sprechen von «100 % Chaos». Vielerorts werde die «Einnahme» von Gebieten oder Ortschaften verkündet, obwohl ukrainische Gruppen weiterhin Widerstand leisteten.

Überhaupt könnten grössere ukrainische Einheiten gar nicht eingekesselt werden, da sich in der aktuellen Kriegslage immer nur ganz kleine Kampfgruppen entlang der Front eingegraben hätten. Der Blogger Zimovsky spottet: «10’500 Banderiten im Kessel – wann werden sie durch Moskau geführt?» Damit spielt Zimovsky auf die berühmte «Parade der Besiegten», den Durchmarsch deutscher Kriegsgefangener durch Moskau im Zweiten Weltkrieg, an.

Einige Kommentatoren vermuten, Gerassimow verwische in seinem Rapport militärische Fachbegriffe wie «Einkesselung» und «Feuerkontrolle» bewusst, um Putin zu täuschen, «der nie gedient hat und den Unterschied womöglich nicht versteht». Ein weiterer Strang der Kommentare glaubt an Propaganda für ein westliches Publikum: Gerassimows Bericht könne dazu dienen, bei Donald Trump den Eindruck eines ukrainischen Zusammenbruchs zu erzeugen. Der Blogger Military Informant mutmasst hingegen, das Armeeoberkommando arbeite mit «Siegesmeldungen auf Kredit», um vor Putin gut dazustehen – in der Hoffnung, die Realität werde bald nachziehen.

Oder ist alles nur ein Komplott?

Das ISW folgert daraus, die russische Armeeführung überhöhe kleine, operativ irrelevante Gewinne, um Handlungsfähigkeit zu signalisieren – gegen innen wie aussen. Darum wolle niemand wirklich das strukturelle Problem – das falsche Berichtswesen innerhalb der Befehlskette – angehen. In der Öffentlichkeit dagegen wird das Bild verstärkt, dass «der gute Zar im Kreml» von seinen Untergebenen absichtlich in die Irre geführt werde und so in gutem Glauben den Krieg weiterführe.

Das ist ein Bild, mit dem Russland-Expertin Dara Massicot von der Carnegie-Friedensstiftung wenig anfangen kann. Vielmehr glaubt sie an orchestrierte Stimmungsmache gegen Gerassimow. Auf X weist sie darauf hin, dass die Militärblogger seit Monaten privilegierten Zugang zum russischen Verteidigungsministerium haben. «Diese Leute sind keine unabhängigen Akteure. (...) Irgendeine Fraktion sagt ihnen, sie sollen Gerassimow zurechtstutzen.» Das ISW erinnert daran, dass Gerassimow bereits im Sommer ähnlich aufgeblasen rapportierte – und damals ebenfalls von Bloggern zerlegt wurde.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Diese Bilder zeigen: Der Krieg verschont die Kinder nicht
1 / 17
Diese Bilder zeigen: Der Krieg verschont die Kinder nicht
quelle: keystone / emilio morenatti
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Ukraine setzt vermehrt auf Bodendrohnen – und macht damit sogar Kriegsgefangene
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
63 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Firefly
28.10.2025 21:19registriert April 2016
Ganz Russland beruht ja auf einer Lüge die sie täglich im Fernsehen bringen. Wieso sollte ein General also nicht Lügen, wenn der oberste Chef selber ein Lügner ist, der sien Volk belügt.
1675
Melden
Zum Kommentar
avatar
Steibocktschingg
28.10.2025 21:21registriert Januar 2018
Die Typen können sich noch so gerne gegenseitig zerfleischen, wenn uns das was bringt und vor allem der Ukraine sollten wir das noch unterstützen.
1064
Melden
Zum Kommentar
avatar
slnstrm
28.10.2025 21:23registriert August 2023
Geschönte Berichte? Ist das nicht der Kern von Propaganda? 🤔
9513
Melden
Zum Kommentar
63
Nvidia als erste Firma über 5 Billionen wert
Der Chipkonzern Nvidia hat als erstes Unternehmen die Marke von fünf Billionen Dollar beim Börsenwert geknackt. Die Nvidia-Aktie ist auf einem Höhenflug, weil das Unternehmen eine Schlüsselrolle im aktuellen Boom rund um Künstliche Intelligenz spielt.
Zur Story