Russische Militärblogger bezeichnen Putins Generalstabschef als Lügenbaron
Russlands Generalstabschef ist inzwischen nicht nur international gesucht wegen Kriegsverbrechen, sondern im eigenen Land zunehmend als Lügenbaron verschrien. Die jüngste Kostprobe seiner Lageberichte lieferte Waleri Gerassimow im TV ab: In einem am vergangenen Sonntag ausgestrahlten Rapport behauptete der 70-jährige Armeegeneral, Russland habe an den Brennpunkten im Ukraine-Krieg fast 50 feindliche Bataillone eingeschlossen und zudem weitere bedeutende Gebietseroberungen errungen.
Wladimir Putin, selbst erst zum dritten Mal seit Kriegsausbruch im Tarnanzug abgebildet, nickte zustimmend. International machte diese öffentliche Lagebesprechung «an einem geheimen Stützpunkt» wegen Putins Ankündigung zum neuen, angeblich «unbesiegbaren» Atom-Marschflugkörper Burewestnik Schlagzeilen. Unter Analysten sorgte aber auch Gerassimows Lagebericht für Aufsehen – einmal mehr.
Wenig überraschend schrieb anschliessend das US-Analysezentrum Institute for the Study of War (ISW), man habe «keine Evidenz zur Untermauerung der Aussagen» gefunden; die angeblich eroberten Ortschaften seien winzig und militärisch unbedeutend. Bemerkenswert aber ist, dass selbst die in der Regel sehr kremltreuen und kriegstreiberischen Militärblogger die Aussagen des eigenen Generalstabschefs in der Luft zerfetzen.
Wann werden die Gefangenen durch Moskau geführt?
So kommentiert der Telegram-Kanal Romanov Light: «Einmal mehr entspricht die gemeldete Information nicht der Lage vor Ort.» Der Kanal Tactical Medical Courses fragt sarkastisch:
1/ Russian warbloggers are angrily denouncing General Valery Gerasimov for blatantly lying to President Vladimir Putin about Russia's military progress in Ukraine during a televised briefing. They note that the incident highlights the persistent problem of false reporting. ⬇️ pic.twitter.com/1oPFvaOQTL
— ChrisO_wiki (@ChrisO_wiki) October 27, 2025
Mehrere russische Militärblogger beschreiben die augenblickliche Frontlage als «porös» und sprechen von «100 % Chaos». Vielerorts werde die «Einnahme» von Gebieten oder Ortschaften verkündet, obwohl ukrainische Gruppen weiterhin Widerstand leisteten.
Überhaupt könnten grössere ukrainische Einheiten gar nicht eingekesselt werden, da sich in der aktuellen Kriegslage immer nur ganz kleine Kampfgruppen entlang der Front eingegraben hätten. Der Blogger Zimovsky spottet: «10’500 Banderiten im Kessel – wann werden sie durch Moskau geführt?» Damit spielt Zimovsky auf die berühmte «Parade der Besiegten», den Durchmarsch deutscher Kriegsgefangener durch Moskau im Zweiten Weltkrieg, an.
Einige Kommentatoren vermuten, Gerassimow verwische in seinem Rapport militärische Fachbegriffe wie «Einkesselung» und «Feuerkontrolle» bewusst, um Putin zu täuschen, «der nie gedient hat und den Unterschied womöglich nicht versteht». Ein weiterer Strang der Kommentare glaubt an Propaganda für ein westliches Publikum: Gerassimows Bericht könne dazu dienen, bei Donald Trump den Eindruck eines ukrainischen Zusammenbruchs zu erzeugen. Der Blogger Military Informant mutmasst hingegen, das Armeeoberkommando arbeite mit «Siegesmeldungen auf Kredit», um vor Putin gut dazustehen – in der Hoffnung, die Realität werde bald nachziehen.
Oder ist alles nur ein Komplott?
Das ISW folgert daraus, die russische Armeeführung überhöhe kleine, operativ irrelevante Gewinne, um Handlungsfähigkeit zu signalisieren – gegen innen wie aussen. Darum wolle niemand wirklich das strukturelle Problem – das falsche Berichtswesen innerhalb der Befehlskette – angehen. In der Öffentlichkeit dagegen wird das Bild verstärkt, dass «der gute Zar im Kreml» von seinen Untergebenen absichtlich in die Irre geführt werde und so in gutem Glauben den Krieg weiterführe.
Das ist ein Bild, mit dem Russland-Expertin Dara Massicot von der Carnegie-Friedensstiftung wenig anfangen kann. Vielmehr glaubt sie an orchestrierte Stimmungsmache gegen Gerassimow. Auf X weist sie darauf hin, dass die Militärblogger seit Monaten privilegierten Zugang zum russischen Verteidigungsministerium haben. «Diese Leute sind keine unabhängigen Akteure. (...) Irgendeine Fraktion sagt ihnen, sie sollen Gerassimow zurechtstutzen.» Das ISW erinnert daran, dass Gerassimow bereits im Sommer ähnlich aufgeblasen rapportierte – und damals ebenfalls von Bloggern zerlegt wurde.
