«Mein Sohn war Emir des Islamischen Staates»
Sammy Djedou gilt als tot. Er soll im Dezember 2016 in Syrien bei einem Luftangriff der internationalen Anti-Terror-Koalition getroffen worden sein, wo er eine dem Islamischen Staat (IS) angeschlossene Gruppe führte. Weil sein Tod nicht feststeht, wurde am 3. November in Brüssel ein Prozess vor dem Geschworenengericht (dem belgischen Assisenhof) wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen ihn eröffnet.
Bereits 2021 war er zu 13 Jahren Haft verurteilt worden, weil er als einer der Anführer der Terrororganisation galt. Ausserdem soll er im Irak und in Syrien Gräueltaten an mehreren jungen Frauen aus der jesidischen Gemeinschaft begangen haben – deshalb der jetzige Prozess. Nach Erkenntnissen der Ermittler soll er drei von ihnen zur Sexsklaverei gezwungen, sie geschlagen und mehrfach vergewaltigt haben. An diesem Mittwoch, 12. November, sollte seine Mutter Chantal (Name geändert) als Zeugin zu seinem Charakter und seiner Persönlichkeit aussagen.
Im März 2016 hatten wir Chantal ein erstes Mal in der Umgebung von Molenbeek getroffen, jenem Brüsseler Viertel, aus dem das Kommando für die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris und Saint-Denis aufgebrochen war. Salah Abdeslam, das einzige überlebende Mitglied des Kommandos, war dort gerade festgenommen worden. Es war nur wenige Tage vor den islamistischen Anschlägen in der belgischen Hauptstadt, bei denen 32 Menschen getötet und 340 verletzt wurden.
Radikal islamistisches Umfeld
Im Gespräch, das wir diesen Dienstag mit der heute 75-jährigen Chantal führten, zeichnet sie den dschihadistischen Werdegang ihres Sohnes nach, der sich als Jugendlicher in einem von radikalem Islamismus geprägten Umfeld dem Islam zuwandte. Sie selbst wurde – nach eigenen Angaben ohne Eintrag ins Strafregister – verurteilt, weil sie ihm Geld geschickt hatte, als er sich im Herrschaftsgebiet des «IS» aufhielt.
Wann ist Ihr Sohn nach Syrien gegangen, um sich dem sogenannten «Islamischen Staat» anzuschliessen?
Chantal: 2012 – damals hiess der «Islamische Staat» noch «Islamischer Staat im Irak und in der Levante». Er war 23 Jahre alt. Er ist mit anderen jungen Leuten zusammen aufgebrochen. Wir lebten in einer Nachbargemeinde von Molenbeek, in Laeken.
Wer hat Ihren Sohn rekrutiert?
Ein Strassenprediger namens Jean-Louis Denis, genannt Jean-Louis le soumis («der Unterworfene»), ein zum Islam konvertierter Belgier (Kader der radikal-islamistischen Organisation Sharia4Belgium – 2012 wurde er in Belgien verhaftet und verurteilt, 2018 wieder freigelassen und ist in diesem Jahr nach Afghanistan weitergezogen).
Welcher Religion gehört Ihre Familie an?
Wir sind katholisch. Ich war selber mit einem Mann von der Elfenbeinküste verheiratet, der 2018 an Krebs gestorben ist. Mein Sohn ist 2004 zum Islam übergetreten, damals war er 15. Er war viel mit gleichaltrigen muslimischen Jugendlichen unterwegs.
Wie haben Sie reagiert?
Ich bin nicht wütend auf ihn geworden. Ich habe ihn nicht aus dem Haus geworfen. Ich habe es akzeptiert. Ich dachte mir: Wenn ich seine Konversion ablehne – was bringt mir das?
Ist er regelmässig in die Moschee gegangen?
Oh ja. Das war die Zeit, als ich mich von meinem Mann scheiden liess. Mein Sohn wollte von zu Hause ausziehen. Er suchte sich eine Wohnung, zehn Meter von der Moschee entfernt, in die er immer ging. Die Moschee war zuerst in einer Garage untergebracht. Später dann in einem Gebäude einer Informatikfirma, das aufgekauft worden war, um daraus eine Moschee zu machen.
Ist Ihr Sohn in dieser Moschee in den radikalen Islam hineingezogen worden?
Ja, aber nicht nur dort.
Hat er Ihnen gesagt, dass er nach Syrien geht?
Nein. Ich wollte zu meiner Familie nach Deutschland reisen. Am Abend vor meiner Abreise haben wir uns verabschiedet, zu Hause noch einen Kaffee oder irgendetwas zusammen getrunken, ich weiss es nicht mehr genau. Normalerweise fuhr er mich zum Bahnhof, wenn ich den Zug nehmen musste. Aber diesmal sagte er zu mir: «Ich habe es sehr, sehr eilig.» Also bin ich meines Weges gegangen und er seines – nur dass seiner über Deutschland führte, bevor er mit dem Bus nach Ankara in der Türkei fuhr und dann, glaube ich, mit einem weiteren Bus an die syrische Grenze.
Ist er alleine aufgebrochen?
Damals gab ich Alphabetisierungskurse in dieser Community, in der der radikale Islam gerade Fuss fasste. Aber die Leute sagten nichts.
In der Zwischenzeit hatte ich alles versucht, um meinen Sohn wiederzufinden. Ich stellte mir vor, er sei mit Freunden in die Türkei gefahren, um eine Art religiöse Auszeit zu machen, aber nicht, dass sie nach Syrien gingen. Soweit ich mich erinnere, steckten die Türken damals mit ihnen unter einer Decke und hatten die Grenzen geöffnet.
Was ist aus Ihrem Sohn beim «IS» geworden?
Er wurde irgendwo in der Umgebung von Rakka getötet, der in Syrien gelegenen Hauptstadt des «Islamischen Staates». Offiziell gilt er jedoch nicht als tot, weil sein Tod nie nachgewiesen werden konnte.
Kannte Ihr Sohn Mitglieder des Kommandos vom 13. November 2015 und der Zelle, die fünf Monate später die Anschläge in Brüssel verübte?
Man kann sagen, sie kannten sich alle. Aus den Artikeln, die ich gelesen habe, weiss ich, dass er den Grossen kannte, Mohamed Abrini, den sogenannten «Mann mit dem Hut», den man auf den Bildern vom Flughafen in Brüssel am Tag der Anschläge vom 22. März sieht und der sich im Gegensatz zu den anderen nicht in die Luft sprengte.
Was werden Sie an diesem Mittwoch im Prozess über Ihren Sohn sagen?
Als wir nach Laeken kamen, war mein Sohn zweieinhalb Jahre alt. Damals lebten dort Belgier, ein paar Italiener. Und ein paar Jahre später war es eine Strasse mit vorwiegend muslimischen Bewohnern. Meiner Meinung nach war es vor allem eine bestimmte Familie, in der es nur Jungen gab, die ihn indoktriniert hat. Die Mutter war sehr radikalisiert. Ich glaube, durch den Kontakt mit diesen Jugendlichen hat mein Sohn die Entscheidung getroffen, zum Islam zu konvertieren.
Wie reagieren Sie auf die schweren Vorwürfe in seinem jetzigen Prozess wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Sie wollen eine Stimme haben und ihre Rechte durchsetzen. Ich selber stehe auf der Seite der Frauenrechte. Meine Mutter hat mich in einem feministischen Geist erzogen.
Wenn man davon ausgeht, dass die ihm vorgeworfenen Taten wahr sind – würden Sie sie seiner Radikalisierung innerhalb des «IS» zuschreiben?
Ja, davon bin ich überzeugt. Er war nicht dieser Typ Junge. Er ist den Mädchen nicht hinterhergelaufen.
Bis 2012 war seine Radikalisierung, wenn man so will, noch relativ moderat. Danach wurde es wahnsinnig. Er muss in eine Spirale hineingeraten sein. Über ihm standen Leute, die das Sagen hatten. Meine Freunde in Belgien haben ihn nie so erlebt. Meine Schwestern und Brüder sind entsetzt über das, was sie lesen. Darüber spricht man nicht. Was soll man dazu sagen?
Wohnen Sie noch immer in Laeken?
Nein, ich wohne in Saint-Gilles, einem anderen Quartier von Brüssel.
Was hat sich seit der Zeit verändert, als Ihr Sohn nach Syrien gegangen ist?
Ein Übel hat das andere überholt. Im Grunde – ich sage das jetzt einfach so – war es mir lieber, dass mein Sohn von dieser Religion (dem Islam) erfasst wurde, als dass er unter dem Einfluss von Drogen stand. Ich beurteile das als Bürgerin, die einkaufen geht. Und ich sehe, was passiert.
