Ich hätte im Bataclan sterben können – aber meine grösste Schwäche hat mich gerettet
Es ist der 13. November 2015. Ich lebe in Paris. Um die Routine zu durchbrechen, will ich raus, etwas unternehmen. Gegen Mittag schiesst mir ein Gedanke durch den Kopf: Eagles of Death Metal! Ein paar Wochen zuvor hatte ich zu meiner Partnerin gesagt:
Ich hatte die Band auf dem Schirm und geplant, an diesem Abend ins Bataclan zu gehen. Aber wir zwei sind echte Tollpatsche und haben vergessen, Tickets zu besorgen. Also stürze ich mich ins Netz, um Karten zu kaufen. Keine Chance – alles ausverkauft. Ich bin wütend und verfluche Paris:
Ich wollte die Musik einer Band teilen, die ich liebte, und meine Rockerseite ausleben – als Fan des Garage- und Stoner-Spirit.
Wenn es in meiner Beziehung besser gelaufen wäre, wenn mir das Leben in Paris besser gepasst hätte, wäre mein Kopf vielleicht klarer gewesen.
Vielleicht wäre ich heute tot.
Freitag, der 13.
Am Abend dieses berüchtigten Freitags, des 13. November 2015, wichen wir ins Quartier Belleville aus. Das ist mein Lieblingsviertel, ein Paradies für ausgefallene Bars und chinesische Dumplings. Wir waren 1,5 Kilometer vom Carillon und zwei Kilometer vom Bataclan entfernt – ich wollte nicht zu weit weg sein, und vielleicht würden wir später noch etwas am Canal Saint-Martin trinken.
Während wir auf unser Essen warten, werfe ich einen Blick auf Twitter, wo ich damals ziemlich aktiv war – als freier Journalist stets auf der Suche nach einer Story, die ich verkaufen konnte. Und plötzlich rauschen die Meldungen rein:
Ich hebe den Blick, alle interessieren sich mehr für ihr Glas Wein als für ihr Handy, niemand gerät in Panik. Niemand WEISS davon. Weitere Tweets:
Meine Freundin und ich essen hastig auf. Wir sind so nah an den Schüssen. Und wenn Typen im Auto wahllos auf Menschen auf der Strasse schiessen, könnten sie ohne Weiteres bis nach Belleville hochfahren, Richtung 18. Arrondissement.
Wir versuchen, schnell nach Hause zu kommen. In den Bars lächeln die Leute und reden laut. Oben an der Rue de Belleville sehen wir ein halbes Dutzend Ambulanzen vorbeifahren. Ist das Zufall? Haben die Leute in den sozialen Medien übertrieben?
Erst als wir in unserer Wohnung ankommen und den Fernseher einschalten, wird uns das Ausmass der Anschläge klar. An diesem Tag leisten die Journalistinnen und Journalisten bemerkenswerte Arbeit. Alle Infos kommen sehr schnell, immer wieder dieses Wort: Bataclan. Und diese Bilanz – Dutzende Tote –, die unaufhörlich steigt.
Meine Partnerin und ich sind k. o. Wir weinen, wir sind fassungslos.
Samstag
Ehrlich gesagt hatte ich keinen besonderen Grund, über die Anschläge zu berichten. Mit Aufträgen aus der Schweiz schlug ich mich so durch, aber mein Ziel war vor allem, in der französischen Hauptstadt Arbeit zu finden. Ich hätte mich auch zurückhalten können – oder sogar ohne zu arbeiten an die Orte des Geschehens gehen, einfach als «Pariser».
Mir schwirrt der Kopf, aber ich muss arbeiten.
Doch in mir sprang etwas an, so etwas wie Pflichtgefühl. Ich rief ein paar Schweizer Medien an, und wir waren uns schnell einig, dass ich an die verschiedenen Anschlagsorte gehen und berichten würde. Wer schon einmal eine Trauerphase erlebt hat, kennt dieses Gefühl, nach dem Tod eines nahestehenden Menschen ein wenig neben sich zu stehen – als wäre man noch nicht richtig wach, um die Gefühle ganz zuzulassen.
Aber vor der in Mitleidenschaft gezogenen Bar Le Carillon spüre ich zum ersten Mal dieses Gefühl, das alle Journalisten, Pflegefachleute und Anwältinnen zu vermeiden versuchen: Mir fehlt jede Distanz. Ich rede mit den Leuten – über sie, über mich. Die Blicke sagen alles, denn wir alle waren betroffen.
Ich bin noch weit davon entfernt, meine eigene Geschichte zusammenzufügen – das Ticketproblem, die Tatsache, dass ich im Bataclan hätte sein sollen. All das kommt später. Aber hier, vor dieser Bar, wie tausend anderen in Paris, wird mein Kopf schwer und mir steigen die Tränen in die Augen.
Ich habe nie jemandem etwas zuleide getan. Ich bin höflich, freundlich, respektvoll – sogar gegenüber Menschen, die anderer Meinung sind als ich. Mit etwas Wohlwollen würde ich in meiner letzten Stunde, nach einer kleinen Beichte, wohl im Paradies landen.
Aber genau WIR waren es, auf die die Terroristen gezielt haben. Pariserinnen und Pariser, Leute, die den Freitagabend zum Anstossen nutzen – ein grosses Bier für 6 Euro in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen –, mit coolem Vintage-Look und politisch bedruckter Stofftasche.
Sie hatten es auf die Pariser abgesehen: hier ein künftiger grosser Schriftsteller, dort ein Designer kurz vor dem Durchbruch, ein Start-up-Gründer mit grossen Plänen. Ein Journalist. Ein unvollkommener, aber unschuldiger Mensch, der nur eines wollte: fester Teil der schönsten Stadt der Welt sein.
Der Geruch von Blut
An dieses Wochenende erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Zuerst lief ich von Belleville in Richtung der Anschlagsorte. Und dann Le Carillon, Zettel an den zerbrochenen Scheiben, Dutzende weisse oder nordafrikanische Gesichter, Hunderte von Blumensträussen. Auf dem Boden noch Fussabdrücke – profilierte Sohlen, mit Blut gezeichnet.
Wie im Krieg bringt die Gewalt der Anschläge das Schlimmste hervor – aber oft auch das Beste in den Menschen. Ein Anwohner aus dem Quartier erklärt mir, hier habe man immer zusammengelebt: Franzosen, Juden, Araber.
Ein anderer Barbetreiber erzählt mir, er habe rasch den Rollladen an der Front heruntergelassen und alle Gäste seien bis in die frühen Morgenstunden im Lokal geblieben. Später wird es weitere Zeichen der Solidarität geben – etwa die endlosen Schlangen von Freiwilligen vor den Blutspendezentren.
Ich gehe zum Bataclan. Überall liegen Blumensträusse, Fotos, Schilder. Ich versuche zu arbeiten: klare, eindringliche Stimmen zu finden – vielleicht sogar Angehörige von Opfern –, alles, was aus dem Üblichen, aus dem Newsfluss heraussticht.
«Nie wieder.»
Ich habe über Überschwemmungen, Lawinen, Brände berichtet. Am Tag danach bleibt immer ein Geruch zurück, etwas, was man spürt und den Leserinnen und Lesern vermitteln kann. Hier war es der Geruch von Blut. Stell dir vor: ältere Menschen, warm eingepackte Leute, Kinder, Blumensträusse und Polizisten, die Wache stehen – und es riecht noch nach frischem Blut.
Vor Bomben sicher – nicht vor Terroristen
Ich reise regelmässig in die Ukraine, und oft heisst es, ich sei mutig. Ich mag das nicht. Wenn ich keine Angst vor Bomben habe, ist das keine bewusste Entscheidung. Es ist einfach so, dass mir ein Geschoss am Himmel viel weniger Angst macht als ein bewaffneter Mann. Und ich sage oft:
Im Schnitt liegt die Wahrscheinlichkeit, in der Ukraine durch eine Bombe zu sterben, bei etwa eins zu ein paar Tausend. Das ist kaum dreimal so hoch, wie als Fussgänger von einem Auto tödlich erfasst zu werden. Den Zahlen zufolge kann das Risiko, bei einem Terrorangriff getötet zu werden, bei etwa eins zu 30 Millionen liegen. Das ist viermal wahrscheinlicher, als von einem Hai gefressen zu werden.
Wenn ich an jenem Abend ins Bataclan gegangen wäre, glaube ich, hätte ich eine 50/50-Chance gehabt, getötet zu werden. Dieser Gedanke hat mich unzählige Male durchzuckt, ich hatte Panikattacken, ich war wie neben mir – als würde ich das alles von aussen sehen. Ich habe die Szene in meinem Kopf in alle Richtungen durchgespielt. Doch mein Fazit bleibt unerbittlich: 50/50. Sie töten mich, sie töten mich nicht. Ich traue mich, mich totzustellen. Ich traue mich nicht. Ich schaffe es, zu fliehen. Oder ich schaffe es nicht. On oder off. Noch 50 Jahre Joel – oder kein Joel mehr.
Ich musste jedoch auf eine Frage verzichten: Ist das gerecht? Und ob in Paris, Kiew oder anderswo – genau darin liegt der Kern des Terrors. Was für die Terroristen als gerecht gilt, ist für die Opfer furchtbar ungerecht.
Man wirft ihnen ja nicht ins Gesicht, sie hätten gesündigt oder eine Reihe falscher Entscheidungen getroffen. Nein, man sagt ihnen: Der Tod ist blind. Und die Überlebenden müssen damit leben: Der Tod ist ungerecht – und das Überleben ist es auch.
