Seit Olivier Assayas (62) «The Clouds of Sils Maria» und «Personal Shopper» mit Kristen Stewart gedreht hat, kennt man ihn auch in Amerika bestens. Letzte Woche arbeitete er am Filmfestival Locarno als Jurypräsident. Begonnen hat seine Karriere Mitte der 70er-Jahre als Bube für alles in den Londoner Pinewood Studios, dort, wo die Bond-Filme erfunden wurden. Der blutjunge Olivier musste damals vor allem Kaffee holen für die Superstars, etwa für Christopher Reeve am Dreh des ersten «Superman»-Films.
Monsieur Assayas, wie muss man sich das Leben
eines französischen Regisseurs vorstellen? Wachen Sie morgens auf und denken:
Wie kann ich heute eine weitere wunderschöne Schauspielerin unsterblich machen?
Ich ... ähm. Ich weiss nicht ... Ach, Sie
beschreiben eine Karikatur!
Natürlich.
Wie jeder Künstler zeige ich die Welt. Aber
auch eine Fantasiewelt, wie wir sie alle in uns haben. Wir leben doch alle
zwischen Realität und Traum. Filmemacher noch ein bisschen mehr als andere,
weil wir doch immer in Bilder übersetzen müssen, wie wir uns die Welt
vorstellen.
In Ihren Filmen ist besonders viel Fiktion
enthalten, Literatur spielt eine Rolle und das Surreale. Realismus eher weniger.
Ja sicher! Fiktion ist der Weg, das Sichtbare
mit dem Unsichtbaren und unsere Erfahrung mit unserer Vorstellung zu verbinden.
Fiktion ist der wichtigste Raum, um einen Film zu machen.
Für «Clouds of Sils Maria» haben Sie in der
Schweiz gedreht. Welche Magie hatte die Schweiz da für Sie?
Ich liebte die Schweiz, aber ich war noch nie
im Engadin. Eines Tages ging ich dort mit Freunden wandern, es war wirklich
sehr banal, und ich war von der Landschaft total fasziniert: Sie hatte diese
geheimnisvolle Schönheit, aber sie ist natürlich auch von der Kulturgeschichte
durchzogen wie von Gespenstern.
Etwa von Nietzsche?
Nietzsche und viele andere. Ich liebte die
Vorstellung einer Landschaft voller Gespenster. Der Film, den ich damals machen
wollte, drehte sich um eine Schauspielerin, die einen Text lernt. Ich hätte das
auch einfach in einem Studio in Paris drehen können. Dann habe ich die
Geschichte nach Sils Maria verpflanzt und plötzlich fand sie in der Landschaft
und ihren Rätseln und historischen Figuren ein ganz besonderes Echo.
Im Engadin haben Sie noch etwas ganz Anderes
entdeckt: die Magie von Kristen Stewart.
Ich hatte verrücktes Glück! So sehr ich
Kristen damals liebte – ich halte sie für die faszinierendste, einzigartigste Schauspielerin
ihrer Generation –, so wenig hatte ich eine richtige Idee von ihren
Möglichkeiten. Ich gab ihr das Drehbuch, ich hatte wahnsinnig viel zu ihrer
Rolle geschrieben, ich dachte, oh mein Gott, sie wird das viel zu abstrakt, abwegig und abgehoben finden und nicht verstehen.
Das ist aber nicht der Eindruck, den sie im Film vermittelt.
Sie machte daraus etwas Einfaches,
Klares, Reales. Sie machte das mit ihrem Talent für Timing, Bewegung und
Sprache, mit ihrem Gespür für Räumlichkeit und Leichtigkeit. Ich denke, Kristen ist dazu prädestiniert, selbst einmal eine grosse Regisseurin zu werden.
In Ihren Filmen spürt man ja nicht nur sehr
viel Nietzsche oder Derrida, sondern ebenso viel Dior. Sie lieben die Film- und Fashionwelt,
die Stars.
Das hat immer mit unserer Zwiegespaltenheit
gegenüber der modernen Welt zu tun. Es gibt diese Spannung zwischen dem
Materialismus unserer Welt und unserem eigenen Mitwirken an dieser Welt. Mode
und Design sind für mich die Orte, an denen solche Spannungen am grössten sind.
Ich finde sie interessant: Sie stellen nicht nur die Welt in Frage, sondern
auch uns.
Es ist ja so: Wenn Frauen sich Ihre Filme
anschauen, finden sie sich sofort in Ihren Heldinnen wieder. In deren Kraft, Trotz und Verletzlichkeit. Wir fühlen uns da sofort verstanden und
aufgehoben. Kann es sein, dass Sie sich als Regisseur um eine recht weibliche
Blickweise bemühen?
Absolut. Es ist für mich der einzige Weg,
etwas überhaupt fassbar zu machen. Ich bin ein Feminist. Ich
denke, dass alles Schlechte unserer Zeit mit verunsicherter Männlichkeit zu tun
hat. Mit Machismus. Die neue Ermächtigung der Frauen ist doch der wichtigste
Wandel, den wir erleben. Die Frauen definieren ihren Platz in der Gesellschaft jetzt
um, und das verwandelt die ganze Welt. Für die klassische Männlichkeit ist das
alles enorm bedrohlich und sie reagiert verstörend und böse.
Weiblichkeit macht die Welt besser, Machismus zerstört sie. Weshalb sich viele
meiner Filme auch darum drehen, wie sich Frauen selbst erfinden.
Ich weiss! Als ich sehr jung war, verliebte
ich mich enorm in Maggie Cheung, die damals der Superstar des Hongkong-Kinos
war. Und dann kamen Sie, drehten den Frauen-Selbsterfindungs-Film «Irma Vep» mit ihr und heirateten sie! Ich war
so eifersüchtig!
Ach, die Jahre mit Maggie ... Ja, das war eine
sehr wichtige Zeit in meinem Leben ...
Ich bin wirklich sehr fasziniert davon, wie
Sie das machen: Damals war Maggie Cheung die wichtigste Schauspielerin Asiens, und Sie brachten sie nach Europa. Jetzt ist Kristen Stewart eine der
wichtigsten Schauspielerinnen Amerikas, und Sie bringen sie nach Europa ...
Es ist doch so: Ich weiss immer genau, was
eine Schauspielerin meinem Film bringt. Ihre Persönlichkeit, ihr Können, ihre
Geschichte. Aber ich frage mich: Was bringt mein Film der Schauspielerin? Mit
Maggie habe ich den ersten Film gedreht, in dem sie Englisch reden konnte.
Maggie ist ja in Grossbritannien aufgewachsen, ihre Muttersprache ist Britisch,
nach Hongkong ging sie als Teenager. Dort wurde sie zu dieser vollendeten und populären Schauspielerin, die alles konnte, Action, Komödie, Arthouse.
Und wie war die erste Begegnung?
Ich weiss noch gut, ich traf sie in
Hongkong in einem Hotel, sie war gut 30 Jahre alt und hatte schon über 70 Filme gedreht. Gemeinsam einen Film zu machen, hat ja auch immer mit Seelenverwandtschaft zu tun. Mit Maggie war sie sofort da. Ich hatte genau 15 Minuten Zeit, um ihr mein Drehbuch
zu erklären und sie von mir zu überzeugen. Am nächsten Tag rief sie mich an und
sagte zu. Und ich gab ihr mit «Irma Vep» ihre Muttersprache und ihre Kultur
zurück.
Eine schöne Geschichte! Und Kristen schenkten
Sie ihre Emanzipation vom «Twilight»-Dämmerlicht?
Ich hatte das Glück, der erste Regisseur zu
sein, der ihr sagte: Hey, es ist okay, sich selbst zu sein! Ich erwarte nicht,
dass du irgendeine Figur kreierst, ich bin nicht an deinen schauspielerischen
Fähigkeiten interessiert, ich will sehen, was passiert, wenn ich dir viel Raum
und Freiheit gebe. Ich will deine Meinung sehen! Heute ist sie eine gute Freundin und ich hoffe, dass wir bald unseren dritten Film zusammen drehen werden.