Einav Zangauker wollte nie an der Spitze einer Protestbewegung stehen. Bis Matan, der Sohn der alleinerziehenden Mutter, am 7. Oktober aus dem Kibbuz Nir Oz in den Gaza-Streifen verschleppt wurde, war die 45-Jährige eine treue Unterstützerin von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Als die schmale Frau mit den dunklen Augen an einem Samstagabend drei Wochen vor dem Jahrestag des Angriffes vor Zehntausenden Demonstranten ans Rednerpult auf der Begin-Strasse in Tel Aviv tritt, nennt sie ihn einen «Lügner», der ihr Kind für seine politischen Interessen als Geisel genommen habe.
«Halte durch!», ruft sie an Matan gerichtet. «Ich schlafe mit dir ein und wache mit dir auf, und ich werde alles tun, dass es auch dem Regierungschef so geht, bis du wieder zu Hause bist.»
Eine Woche später überschlagen sich die Ereignisse: Im Libanon explodieren Tausende Pager in den Taschen von Mitgliedern der mit dem Regime in Iran verbündeten Hisbollah-Miliz, mutmasslich ein israelischer Geheimdienstangriff. Tage darauf tötet die israelische Armee bei einem schweren Bombardement in Beirut Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah.
Am 1. Oktober feuern die Revolutionsgarden 181 Raketen auf Israel. Die Region steht plötzlich am Rande eines grossen Krieges. Seitdem redet kaum noch jemand von Matan und den rund einhundert anderen Geiseln in Gaza.
Anfang Oktober steht Zangauker wieder auf der Begin-Strasse, diesmal ohne Bühne. Wegen der geltenden Sicherheitsvorkehrungen sind nur rund 2000 Menschen gekommen. Netanjahu habe sich im Libanon für die «Eskalation der Region entschieden und dafür, die Geiseln zu opfern, um an der Macht zu bleiben».
Die Spaltung zwischen den Geiselangehörigen und der Regierung ist ein Jahr nach dem Hamas-Überfall mit rund 1140 Toten und 250 Entführten unübersehbar. Bereits Anfang September hatte sich der Ton vieler Angehöriger der Entführten verschärft.
Die meisten Familien kamen bis dahin auf den in «Geiselplatz» umbenannten Vorplatz des Kunstmuseums. Dort stand lange das Erinnern an die Entführten im Vordergrund. Spätestens aber seit Anfang September Soldaten die Leichen von sechs nur Stunden zuvor erschossenen Geiseln in Gaza fanden, ist ein Grossteil der Geiselangehörigen zu Regierungsgegnern geworden.
«Das Blut klebt an Netanjahus Händen», sagte Zangauker Mitte September in die Fernsehkameras. Auf ihrem T-Shirt prangte das Gesicht ihres Sohnes Matan. In der Hand hielt sie einen grossen Kaffeebecher und kam kaum dazu, ihn zu trinken, bevor ihr nächstes TV-Interview begann. «Matan und die anderen wären längst zu Hause, wenn der Regierungschef nicht ständig neue Forderungen einbringen würde. Wir wissen, dass die Hamas einem Abkommen im Juli zugestimmt hat.»
Ihre schwarzen Haare rahmten ihr hageres Gesicht und dunkle Schatten unter ihren Augen. Wenn sie mit ihren Mitstreitern sprach, vertrieb ihr Lächeln die Müdigkeit.
Die ersten zwei Monate nach dem 7. Oktober verliess die dreifache Mutter aus der Kleinstadt Ofakim im Süden Israels kaum ihr Haus. Auch in ihrer Stadt töteten die Terroristen 53 Menschen. «Ich dachte damals, dass Netanjahu ihn zurückbringen würde», sagt sie heute. Nach zwei Treffen Anfang des Jahres sei sie desillusioniert gewesen. Er habe ihr dabei versichert, dass Israel alles tue, um die Geiseln zurückzubringen. Als sie ihn fragte, wie das gelingen soll, antwortete er nicht.
Seitdem geht Zangauker Samstag für Samstag auf die Strasse am Begin-Tor. Monatelang war es eine kleine Gruppe von Angehörigen, die hier gegen die Regierung protestierte. Doch mit jeder tot aus Gaza geborgenen Geisel kamen mehr Menschen vom Museumsplatz herüber.
Die Entscheidung der Geiselfamilien, sich gegen die Regierung zu stellen, ist ein Balance-Akt. Nach dem 7. Oktober forderten die meisten Israeli Geschlossenheit. Die Dachorganisation der Angehörigen, das «Familienforum», mied politische Positionierungen wann immer möglich.
Ein Jahr später aber genügt schon alleine die Forderung nach einem Geiselabkommen, um das Land zu spalten. Laut einer Umfrage des Jewish People Policy Institute (JPPI) befürworten nur gut die Hälfe der Israeli ein Abkommen mit Zugeständnissen an die Hamas.
Netanjahu beharrt auf militärischem Druck. Nach einem Jahr Krieg und mehr als 41'000 toten Palästinensern ist die Bilanz seines Vorgehens mit Blick auf die Geiseln allerdings miserabel: Nur 8 konnte die Armee befreien, 105 kamen durch Verhandlungen frei, 37 wurden tot geborgen. Immer wieder rücken israelische Truppen in Gebiete vor, die längst als gesichert galten.
Nachdem das Familienforum sich Anfang September dem Anti-Regierungsprotest der Begin-Familien angeschlossen hatte, gingen in der Woche danach so viele Menschen wie noch nie seit Kriegsbeginn auf die Strasse. Die Initiatoren sprachen von 750'000 – in einem Land mit rund zehn Millionen Einwohnern. Jetzt aber, da die israelische Armee in den Libanon vorrückt und der Konflikt mit dem Regime in Iran zum offenen Krieg werden könnte, spricht kaum noch jemand von Verhandlungen mit der Hamas.
«Netanjahu tut alles, damit dieser schreckliche Krieg nicht endet», sagt der 23-jährige Yotam Cohen, der Bruder des in Gaza gefangenen 20-jährigen Nimrod Cohen. «Wir haben einfach alles probiert.» Sein Vater Yehuda steht neben ihm. «Wir haben heute zwei Feinde», sagt der 55-Jährige. «Die Terroristen von Hamas und Hisbollah und unsere eigene Regierung.»
Auf den Plakaten der Demonstranten am Begin-Tor stehen auch diesen Samstag die Namen, die mittlerweile fast alle Israeli kennen: Kalderon, Albag, Lifshitz und viele weitere. «Warum sind sie noch immer in Gaza?», rufen alle zusammen.
Etwas abseits steht Naama Weinberg. Für ihren Cousin Itay Svirsky ist es bereits zu spät. Schon seit Mitte Januar ist bekannt, dass er in Gaza getötet wurde. Trotzdem kommt die 27-Jährige noch immer jede Woche. Aktiv zu sein, helfe ihr dabei, nicht verrückt zu werden.
Ihr Architekturstudium hat sie an den Nagel gehängt. «Ich kann mir nicht vorstellen, meine Energie etwas anderem zu widmen.» In der Eskalation des Krieges sieht sie ein «Todesurteil» für die Geiseln. Stattdessen brauche es ein Waffenstillstandsabkommen und eine gewaltige Veränderung in Israel. Nur dann könne das Land wieder zu einem sicheren Ort werden, an dem sie eines Tages ihre eigenen Kinder grossziehen wolle.
Soll er erst mal zuhause verbessern. Oh warte, das will er nicht, sonst muss er im Knast. Netanyahu wurde in drei separaten Verfahren wegen Betrugs, Vertrauensbruchs und der Annahme von Bestechungsgeldern verklagt. Er kann im Falle einer Verurteilung in einem Bestechungsfall zu bis zu 10 Jahren Haft verurteilt werden, aber solange er Ministerpräsident ist, ist er sicher. Der Krieg muss weiter.