Heute jährt sich der Angriff der Hamas auf Israel. Was löst dieser Jahrestag in Ihnen aus?
Maoz Inon: Viel. Ich bin heute nicht mehr derselbe wie noch vor einem Jahr. Israel ist nicht mehr das Land, das es noch vor einem Jahr war. Ich werde heute mit meinen vier Geschwistern auf das Grundstück meiner Eltern gehen und wir werden zusammen trauern. Vor genau einem Jahr hat die Hamas meine Eltern bei einem Raketenangriff getötet.
Sie waren indirekt dabei, als es passierte, richtig?
Ich war, kurz bevor sie starben, mit ihnen am Telefon. Das war am frühen Abend. Dann hörte ich einen lauten Knall und die Verbindung brach ab. Ich machte mir Sorgen und bat den Dorfvorsteher, mir Bescheid zu geben, sobald sie mehr über meine Eltern wissen. Die Ungewissheit war kaum auszuhalten. Gegen 17 Uhr rief er mich dann an und sagte mir, dass das Haus meiner Eltern ausgebrannt sei. Und dass sie zwei Leichen gefunden hätten. Ich habe zuerst einfach nur geweint. Und damit meine ich: mit dem ganzen Körper. Es hat mich nur noch geschüttelt. Dann wurde ich wütend und schwor Rache.
Der Hamas?
Nein. Der israelischen Regierung.
Weshalb? Es waren doch Hamas-Terroristen, die Ihre Eltern töteten.
Ja, aber ich war nicht wütend auf die Terroristen, die tun, was Terroristen eben tun. Ich war wütend auf unsere Regierung, die uns, seit ich denken kann, eingetrichtert hat, dass wir sicher sind. Dass die grosse Mauer vor unserer Haustür uns beschützt. Dass es eine dauerhafte, gute Lösung ist, den Konflikt mit den Palästinensern in dieser angespannten Schwebe zu behalten, weil Israel ja militärisch überlegen ist. Das waren alles Lügen.
Wie meinen Sie das?
Mauern versperren uns die Sicht auf die andere Seite. Mauern entzweien uns. Mauern machen, dass wir die Menschen auf der anderen Seite komplett dehumanisieren, unsere Empathie für sie verlieren, sie zu Monstern machen. Ein latenter Konflikt ist zudem keine Lösung und bedeutet keine Sicherheit. Nur Frieden kann Sicherheit bedeuten. Und zwar für alle. Das weiss ich heute. Und darum bin ich nicht mehr auf Rache aus. Darum kämpfe ich jetzt für Frieden. Und darum habe ich vergeben.
Der Hamas oder der israelischen Regierung?
Beiden.
Wie ist es Ihnen gelungen, zu vergeben?
Vergebung ist nichts, was man für andere tut. Man tut es für sich selbst. Ich wollte heilen. Aber vor allem wollte ich nicht noch mehr Hass und Rache in dieser Welt.
Sie wollen mit Vergebung die Gewaltspirale durchbrechen.
Genau. Darum war ich so schockiert, als ich hörte, dass US-Präsident Joe Biden – der mächtigste Politiker dieser Welt – die Tötung des Hisbollah-Chefs Nasrallah als «Akt der Gerechtigkeit» bezeichnete. Wie kann man so etwas sagen und gleichzeitig das Gefühl haben, man setzt sich für eine «Deeskalation» im Nahen Osten ein? Wie soll die Tötung eines Menschen die Tötung anderer Menschen wieder ins Lot bringen können? Es holt die Getöteten nicht wieder zurück ins Leben. Rache wird meine Eltern nicht wieder lebendig machen. Rache führt nur dazu, dass andere denselben Schmerz erleiden müssen, wie ich ihn den Rest meines Lebens ob des Verlusts meiner Eltern verspüren werde. Das wünsche ich niemandem.
Wir sprechen hier aber über einen Terroristen.
Wer als Terrorist gehasst und wer als Held gefeiert wird, hängt davon ab, auf welcher Seite man steht. Auch der Westen hat in der Vergangenheit schreckliche Verbrechen begangen: in der Kolonialisierung, im Vietnamkrieg, in Japan, in Korea – ganz zu schweigen vom Holocaust. Verbrechen, die so schrecklich sind, dass sie unsere Vorstellungskraft übersteigen. Es gibt nicht einfach zwei Arten von Menschen: Gute und Böse. Wir können alle beides sein. Und wir können uns für die gute Seite entscheiden. Daran halte ich fest.
Wie ist es Ihnen gelungen, Kraft für den Kampf für Frieden aus dieser Tragödie zu schöpfen?
So makaber es jetzt klingt: Meine Eltern haben mich auf den 7. Oktober vorbereitet. Mich und meine vier Geschwister. Darum setzen wir uns seit ihrem Tod alle aktiv für Frieden ein.
Wie meinen Sie das, Ihre Eltern hätten Sie auf den 7. Oktober vorbereitet?
Die Art und Weise, wie sie uns grossgezogen haben. Meine Eltern haben uns von klein auf beigebracht, dass alle Menschen gleich sind und mit demselben Respekt behandelt werden müssen. Und sie haben uns Hoffnung gelehrt. Mein Vater war Bauer. Wann immer man ihn gefragt hat, wie es mit der Ernte aussieht, hat er geantwortet: «Schlecht.» Im Winter hatte er Probleme mit Überschwemmungen, im Sommer mit der Dürre, dazwischen mit Schädlingen. Es war immer irgendetwas. Und trotzdem hat er jedes Mal am Schluss seiner Antwort angehängt: «Aber nächstes Jahr werde ich meine Felder wieder bepflanzen. Nächstes Jahr wird es besser werden.»
Und wurde es besser?
Manchmal ja, manchmal nein. Er hat die Hoffnung nie aufgegeben und er hat stets versucht, von den vergangenen Fehlern zu lernen. Seine Philosophie war: Ich kann nicht vorhersehen, welche Herausforderungen nächstes Jahr auf mich zukommen werden, aber ich kann beeinflussen, wie ich darauf vorbereitet bin. Und damit kann ich die Zukunft verändern. Zum Besseren.
Ist das auch Ihre Philosophie in diesem Krieg?
Ja. Für Frieden müssen wir drei Samen sähen: den Samen der Hoffnung, den Samen der Zukunft und den Samen der Versöhnung.
Das klingt sehr optimistisch. Doch die Situation wirkt derzeit so ausweglos wie lange nicht mehr angesichts der jüngsten Eskalationen mit der Hisbollah und dem Iran.
Ich bin Realist. Frieden wird nicht von nichts kommen. Es braucht Leute, Staaten, Gemeinschaften, die sich dafür einsetzen und von einer besseren Zukunft träumen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es auch unvorstellbar, dass eines Tages ein friedliches, europäisches Bündnis entstehen wird, das ausgerechnet Deutschland und Frankreich ins Leben rufen werden. Und heute haben wir die EU. Auch die EU brauchte am Anfang Träumer wie mich. Die Fähigkeit zu träumen, hat mir meine Mutter mitgegeben.
Sie wuchsen direkt neben der Grenze zu Gaza auf, in einem Kibbutz namens Netiv HaAsara. Hat das Ihre Perspektive auf den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis beeinflusst?
Ja und nein. Ich habe eine schöne, behütete Kindheit erlebt. Rückblickend weiss ich heute, dass ich in vollkommener Ignoranz aufgewachsen bin. Ich wusste nichts darüber, wie das Leben auf der anderen Seite aussah, wusste nichts über die erste und zweite Intifada, kannte nicht einmal die höchsten islamischen Feiertage meiner Nachbarn. Ich kam gar nie auf die Idee, mir diese Fragen zu stellen. Und in der Schule schwieg man über diese Themen.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie «in Ignoranz» gelebt hatten?
Als ich mit 30 Jahren die Welt bereiste. Ich trat mit unterschiedlichen Menschen und Kulturen in Kontakt, ich sah, welche Auswirkungen die Konflikte der Vergangenheit, etwa die Kolonialgeschichte, nach wie vor auf unsere Welt haben. Und angesichts dessen stellte ich plötzlich fest: In meinem Freundes- und Bekanntenkreis zuhause befindet sich keine einzige palästinensische Person. Ich weiss nichts über diese Menschen, habe praktisch noch nie mit ihnen gesprochen. Das fand ich schrecklich und wollte ich ändern.
Wie haben Sie das geändert?
Ich setzte mich dafür ein, dass Palästinenser und Israelis zusammenkommen. Gemeinsam etwas schaffen. Der Tourismus war für mich ein naheliegender Startpunkt. Heute habe ich zahlreiche palästinensische Freunde und bin dankbar dafür.
Haben Sie seit dem 7. Oktober palästinensische Freunde verloren?
Die meisten meiner palästinensischen Freunde leben in Israel. Für sie war das letzte Jahr auch schrecklich. Sie erlebten Anfeindungen, Misstrauen, manche hatten Angst ihren Job zu verlieren, wenn sie Mitgefühl mit dem Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen äusserten. Viele verloren auch Freunde und Verwandte durch die Waffen von israelischen Soldaten. Ich habe mit ihnen getrauert, so wie sie mit mir um meine Eltern trauerten. Dieser Krieg hat nur Verlierer auf allen Seiten.
Sie sprechen von Frieden. Aber ist die israelische Bevölkerung bereit dazu? Wenn nach wie vor israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas vermutet werden? Wenn das Land vom Libanon aus und aus Iran beschossen wird?
Nach dem 7. Oktober 2023 war das Wort «Frieden» für lange Zeit aus unserer Öffentlichkeit verschwunden. Niemand sprach darüber, niemand wollte es hören, die Medien berichteten nicht darüber. Seit vier Monaten beobachte ich eine neue Entwicklung: Immer mehr Israelis sind müde. Sie sehen keinen Ausweg, wenn der Konflikt immer weiter eskaliert. Die israelischen Medien berichten immer öfter über Frieden. Das gibt mir Hoffnung. Vielleicht können wir einander eines Tages das Leid, das wir uns gegenseitig angetan haben, vergeben.
Was würden Sie den Hamas-Terroristen, die Ihre Eltern getötet haben, sagen, wenn Sie mit ihnen sprechen könnten?
Ich würde ihnen von meinen Eltern erzählen. Ich würde ihnen sagen, dass sie wundervolle, fürsorgliche, liebevolle Eltern für ihre fünf Kinder und liebevolle Grosseltern für ihre elf Enkelkinder waren. Dass meine Eltern von ihren Freunden, Verwandten und in ihrem Dorf geschätzt und geliebt wurden. Dass sie ihr Leben lang einfach versucht hätten, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Ich würde ihnen sagen, dass meine Eltern gute Menschen waren. Und dass sie diese Menschen getötet haben. Aber ich würde ihnen auch sagen, dass ich ihnen vergebe.