Mehrere israelische Zeitungen schwärzten ihre Titelseiten, als das israelische Parlament letzten Montag ein Kernelement der umstrittenen Justizreform trotz massivem Widerstand verabschiedet hatte.
Ein schwarzer Tag für die israelische Demokratie lautet die Botschaft unmissverständlich. Hinter der Aktion steckt die Hightech-Protestbewegung, die seit Monaten gegen die Reform mobilmacht. Israels Start-up-Industrie fürchtet aufgrund der Reformen ihren Untergang. Viele Investoren verlagern ihre Geschäfte ins Ausland.
Die Hightech-Branche ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes: In keinem anderen Land gibt es mehr Start-ups pro Kopf als in der selbsternannten Start-up-Nation. Rund 10 Prozent aller Arbeitskräfte sind in diesem Bereich tätig. Die Industrie erwirtschaften rund 15 Prozent des Bruttoinlandprodukts und ist für 25 Prozent der Steuereinnahmen verantwortlich. Doch wie lange noch?
Nicht nur die Techbranche wendet Israel zunehmend den Rücken zu, sondern auch die Einwohnerinnen und Einwohner. Gemäss einer jüngsten Umfrage überlegt sich jeder vierte Bürger, das Land zu verlassen, das auf eine «Autokratie oder Schlimmeres» zusteuert. Der Umfrage zufolge stehen nur 23 Prozent der Bevölkerung hinter den Plänen der Regierung.
Die Umfrage zeigt ein geteiltes Israel. Die Pläne der Regierung haben zu einer tiefen Kluft in der Gesellschaft geführt. Ein kleiner Teil der Befragten (4 Prozent) wünscht sich gar eine Teilung in zwei jüdische Staaten. Die aktuelle Lage ist für manche so belastend, dass sich immer mehr psychologisch unterstützen liessen, wie israelische Medien berichten.
Auswanderungs-Anträge explodieren förmlich. Das Unternehmen Ocean Relocation, das Dienstleistungen für Ein- und Auswanderer anbietet, spricht von einem «völlig beispiellosen» Ausmass an Anfragen. Die Nachfragen seien völlig aus dem Gleichgewicht geraten. «Bisher bestand die Hälfte unserer Kunden aus ausreisenden Israelis und die andere Hälfte aus immigrierenden oder zurückkehrenden Israelis. Jetzt erleben wir ein Verhältnis von 90:10. Das ist eine dramatische Entwicklung», teilt eine Sprecherin gegenüber der regierungskritischen Zeitung «Haaretz» mit.
Die erste Abwanderungswelle habe sich im Februar ereignet, als die Proteste ihren Höhepunkt erreichten und die Abstimmung schliesslich verschoben wurde. Seit einigen Tagen bahnt sich ein Tsunami an. Täglich erhalte das Unternehmen mehr als 100 Anfragen. Tendenz steigend. Noch nie habe das Unternehmen so viele Anfragen erhalten.
Insbesondere die Wirtschaft gibt Anlass zur Sorge. Viele Unternehmen zögern im Land zu investieren oder wandern ab. Die israelische Währung, der Schekel, ist abgestützt. Der ehemalige israelische Zentralbankchef, Jacob Frenkel, warnte vor schweren wirtschaftlichen Folgen.
Israels führender Demograf, Professor Emeritus Sergio DellaPergola, ist sich sicher: «Wir werden in diesem Jahr auf jeden Fall einen Anstieg der Abwanderung erleben.» Ein entscheidender Faktor werde die Wirtschaft sein, insbesondere die Hightech-Industrie. Um dort eine Abwanderung zu verhindern, gewährt die Regierung nun Steuervorteile und neue Anreize für Hightech-Investoren.
Gilad hat den Entschluss bereits gefällt, Israel zumindest vorübergehend zu verlassen. Er ist davon überzeugt, dass die Rechte von LGBTQ-Menschen in Israel künftig beschnitten werden. «In den letzten Monaten kam es vermehrt zu Fällen von Gewalt gegen LGBTQ-Menschen», sagt der 32-Jährige gegenüber «Haaretz».
Diese Entwicklung sowie homophobe Äusserungen von Koalitionsmitgliedern bereiten ihm und seinem Partner grosse Sorgen. Im September wird das Paar für mindestens zwei Jahre in die USA auswandern.
Die beiden sind bei weitem nicht die Einzigen, die ihre Ausreise geplant oder schon hinter sich haben.
Als Benjamin Netanjahu Ende 2022 zurück an die Macht kam und gemeinsam mit rechtsextremen Parteien eine Koalition zusammenstellte, begann Daniel Schleider mit dem Gedanken an eine Auswanderung zu spielen. «Bei all dem Wahnsinn wurde mir klar, wohin das Land sich entwickeln wird», sagt er gegenüber «Times of Israel».
Aktiv nach Auswanderungsmöglichkeiten gesucht habe er allerdings erst als die «Justizrevolution» seinen Lauf nahm. «Man könnte es als den Tropfen bezeichnen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.»
Die Stärke Israels im Laufe seiner 75 Jahre sei die Wirtschaft, so Schleider. «Doch diese haben wir in weniger als einem halben Jahr zerstört.» Mit seiner Frau werde er nächsten Monat nach Barcelona auswandern. «Wir haben vor allem nach einem künftigen Wohnort gesucht, an dem wir uns nicht ständig mit den Veränderungen in Israel auseinandersetzen müssen.»
Besorgt um seine Heimat ist auch der Historiker und Bestsellerautor Yuval Harari. Im Frühjahr sagte er zur NZZ: «Sollte unser Widerstand scheitern und die Regierung Israel in eine Diktatur verwandeln, werde ich Israel verlassen müssen.» Denn er könne nicht in einem Land über die grossen Herausforderungen der Menschheit schreiben, wenn es dort keinen echten Schutz der Rede- und Meinungsfreiheit gibt.
Israelis fühlen sich besonders von Spanien angezogen, berichten verschiedene israelische Medien. Das Land erinnere in Bezug auf die Lebensqualität, die Landschaft, die Strände und das Essen stark an Israel. Attraktiv seien aber auch Portugal, Polen sowie Marokko, da viele Israelis Wurzeln oder Familien in diesen Ländern hätten.
Tausende Israelis hätten sich bereits professionellen WhatsApp-Gruppen angeschlossen, um sich über Auswanderungsmöglichkeiten auszutauschen und weit weg von Israel kleine Kibbuzim (Kommunen) zu gründen.
Zurückgegangen sei die Nachfrage nach Auswanderungsmöglichkeiten in die USA, wo die überwiegende Mehrheit der israelischen Staatsbürger im Ausland lebe. Diese Entwicklung hänge stark mit den strengen Einwanderungsgesetzen sowie mit den hohen Lebenshaltungskosten in jüdischen Gemeinschaften in den USA zusammen, sagt eine Auswanderungsexpertin gegenüber «Times of Israel». Viele Israelis hätten es in Europa einfacher, ein Aufenthaltsrecht zu erhalten, als in den USA.
Die Anträge kämen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, aber besonders von Menschen, die ihre Arbeit auch im Ausland verrichten können, unter anderem Arbeitnehmende der Hightech-Branche.
Besonders die Abwanderung von liberalen jüdischen Staatsbürgerinnen und Bürgern könnte dramatische Folgen für die politische Zukunft des Landes haben, das sich noch immer als die einzige Demokratie im Nahen Osten sieht. Denn: In Israel ist es nicht möglich, brieflich abzustimmen.
Im Militär gibt es doch sicher viele, die damit nicht einverstanden sind. Israel ist komplett von der Rolle.
Ich glaube viele suchen momentan einen Plan B. Welcher aber nicht zwangsläufig jetzt durchgeführt wird.